NVL Unipolare Depression (2022)

14 Versorgungskoordination

Ziel der Empfehlungen dieses Kapitels ist es, die sinnvolle Kooperation zwischen den verschiedenen Versorgungsebenen im ambulanten und (teil-)stationären sowie dem rehabilitativen Setting und der Förderung von Teilhabe zu verbessern.

14.1 Versorgungsstrukturen in Deutschland

Empfehlung

Empfehlungsgrad

14-1 | neu 2022

Alle an der Versorgung von Patient*innen mit depressiven Störungen beteiligten Professionen sollen sich über die jeweilige regionale Versorgungslandschaft kundig machen.

Starke Empfehlung

RationaleRationale

Die konsensbasierte Empfehlung zielt auf eine Verbesserung der interdisziplinären Zusammenarbeit und eine Ausschöpfung aller zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zur Unterstützung von Menschen mit psychischen Störungen. Dies ist aber nur möglich, wenn den an der Versorgung beteiligten Berufsgruppen diese Möglichkeiten hinreichend bekannt sind. Da die Strukturen regional sehr heterogen sind (Abbildung 15, Abbildung 17), empfiehlt die Leitliniengruppe, sich entsprechend zu informieren, um dann individuelle Netzwerke für die kleinräumige Zusammenarbeit zu bilden.

 Überlegungen Erwägungen, die die Empfehlung begründen

An der Diagnose und Behandlung depressiver Störungen sind in Deutschland die verschiedensten Akteure beteiligt, deren Finanzierung aufgrund der sozialrechtlichen Trennung auf Grundlage unterschiedlicher SGB erfolgt: Neben dem für die ambulante Versorgung maßgeblichen SGB V kommen bei Teilhabebeeinträchtigungen auch das SGB VI (Renten, medizinische Rehabilitation Berufstätiger), SGB IX (Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen) und weitere SGB infrage. Die Leitliniengruppe nimmt als Versorgungsproblem wahr, dass sich aus dem fraktionierten Versorgungssystem Zugangs- und Schnittstellenprobleme ergeben; zudem sind die in den verschiedenen Bereichen Tätigen häufig nicht umfassend über alle Angebote und Möglichkeiten informiert. Dies betrifft insbesondere psychosoziale Therapien, Angebote zu Rehabilitation und Teilhabeförderung, Angebote der Selbsthilfe, gemeindepsychiatrische Interventionen sowie regionale Modellprojekte der multiprofessionellen Versorgung.

Abbildung - weißAbbildung 17: Versorgungsstrukturen für Menschen mit psychischen Erkrankungen. Leistungen und Anbieter

Abbildung 17 - Versorgungsstrukturen für Menschen mit psychischen Erkrankungen. Leistungen und Anbieter 

Die Abbildung dient der grundsätzlichen Orientierung und stellt keine vollständige Darstellung aller Angebote, Anbieter und Kostenträger dar. 1 FÄ für Allgemeinmedizin (mit obligatorischer Qualifikation in psychosomatischer Grundversorgung); FÄ für Innere Medizin sowie weitere historische Fachbezeichnungen; 2 FÄ für Psychiatrie und Psychotherapie, FÄ für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Ärzt*innen mit Zusatzbezeichnung Psychotherapie und Psychoanalyse sowie weitere historische Fachbezeichnungen; 3 nur im stationären Kontext verfügbar; 4 nicht in allen Regionen und/oder bei allen Krankenkassen verfügbar; 5nach § 115d, SGB V; 6 zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der NVL noch nicht umgesetzt/verfügbar; 7 KSV-Psych-RiLi nach § 92 Abs. 6b SGB V

 Patientenblatt Patientenmaterialien

14.2 Ambulante Versorgungskoordination und Überweisungsindikationen

14.2.1 Hausärztliche, psychiatrische und psychotherapeutische Versorgung

Empfehlung

Empfehlungsgrad

14-2 | neu 2022

In der Versorgung von Patient*innen mit depressiven Störungen soll eine interdisziplinäre Abstimmung bzw. eine Überweisung zur Konsiliar-, Mit- oder Weiterbehandlung entsprechend Tabelle 44 geprüft werden bzw. erfolgen.

Starke Empfehlung

RationaleRationale

Die konsensbasierte Empfehlung zielt auf eine Verbesserung der interdisziplinären Zusammenarbeit und eine Ausschöpfung aller zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zur Unterstützung von Menschen mit psychischen Störungen.

 Evidenzgrundlage Evidenzbasis

Die konsensbasierte Empfehlung beruht auf versorgungspraktischen Überlegungen und guter klinischer Praxis.

 Überlegungen Erwägungen, die die Empfehlung begründen

Bei leichten bis mittelschweren depressiven Störungen kann eine alleinige ambulante Behandlung, nach lege artis durchgeführter somatischer, psychopathologischer und psychologischer Diagnostik, von allen relevanten approbierten Behandlungsgruppen erfolgen: Hausärzt*innen, Fachärzt*innen für Psychiatrie und Psychotherapie sowie für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Ärzt*innen mit der Zusatzbezeichnung Psychotherapie und Psychoanalyse sowie Psychologische Psychotherapeut*innen sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen.

Hausärzt*innen haben bei der Versorgung depressiver Störungen eine zentrale Rolle inne, da sie einen hohen Anteil dieser Patient*innen behandeln 5909, 31941, 31939. Depressionen gehören zu den fünf häufigsten Krankheiten in der Hausarztpraxis 10060 und der größte Anteil aller Depressionsdiagnosen wird ausschließlich hier gestellt. Ein großer Teil der Patient*innen, bei denen in der ambulanten Versorgung eine depressive Störung kodiert wurde, wird hausärztlich versorgt 28324.

Die besondere Bedeutung der Hausärzt*innen besteht darin, dass sie sehr häufig als erstes Glied in der Versorgungskette depressiver Störungen stehen. Als langjährige Begleiter*innen der Patient*innen und deren Angehörigen kommt ihnen eine besondere Rolle beim Aufbau einer empathischen und vertrauensvollen Arzt-Patient-Beziehung zu. Neben der Durchführung psychoedukativer und niedrigintensiver gesprächsbasierter Interventionen haben Hausärzt*innen eine wichtige Beratungs- und Koordinationsfunktion bezüglich spezialfachärztlicher, psychotherapeutischer oder anderer Unterstützung sowie bezüglich anderer Hilfeleistungen, und sie können eine koordinierende Rolle im Rahmen mancher strukturierter Versorgungsformen einnehmen (siehe Kapitel 14.4 Strukturierte und komplexe Versorgungsformen). Schließlich kann auch in Hausarztpraxen tätiges Gesundheitsfachpersonal, insbesondere Medizinische Fachangestellte oder Gesundheits- und Krankenpflegekräfte ggf. mit Zusatzqualifikationen, in die Patientenversorgung eingebunden werden. Trotz ihrer jahrelangen Beziehung und der damit verbundenen Kenntnis der Lebensumstände der Patient*innen werden hausärztlich gestellte Anträge z. B. auf medizinische Rehabilitation oder Teihabe-Leistungen aus der Erfahrung der Leitliniengruppe durch die Kostenträger oft weniger berücksichtigt (siehe auch Kapitel 13 Medizinische Rehabilitation und Leistungen zur Teilhabe).

Bei schweren und/oder rezidivierenden depressiven Störungen, psychischer Komorbidität oder Nichtansprechen von Antidepressiva ist eine ausschließlich hausärztliche Behandlung nicht mehr ausreichend, es sei denn, die Patient*innen verzichten bewusst auf eine intensive Behandlung (z. B. bei Multimorbidität).

Psychotherapeut*innen behandeln depressive Störungen aller Schweregrade durch Anwendung anerkannter Psychotherapieverfahren und -methoden. Fachärzt*innen für Psychiatrie und Psychotherapie behandeln ebenfalls depressive Störungen aller Schweregrade mit dem gesamten Spektrum diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen. Bei Fachärzt*innen für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie liegt der Schwerpunkt auf der psychotherapeutischen Behandlung von Patient*innen mit Komorbidität von Depressionen und körperlichen Erkrankungen.

 Tabelle Tabelle 44: Indikationen für eine interdisziplinäre Abstimmung bzw. Überweisung zur Konsiliar-, Mit- oder Weiterbehandlung im Zusammenhang mit depressiven Störungen

Tabelle 44: Indikationen für eine interdisziplinäre Abstimmung bzw. Überweisung zur Konsiliar-, Mit- oder Weiterbehandlung im Zusammenhang mit depressiven Störungen

Klinische Situation

Überweisung*

bisher ausschließlich hausärztliche Versorgung und

  • schwere/rezidivierende/chronische Symptomatik
  • komorbide andere psychische Störung
  • ausbleibende Besserung unter niedrigintensiven gesprächsbasierten Interventionen und/oder Antidepressiva (spätestens nach 6 Wochen)

Psychiatrie1/Psychotherapie1,2/Psychosomatik1

  • bisher ausschließlich hausärztliche und/oder psychotherapeutische Behandlung und schlechte Verträglichkeit der Antidepressiva

Psychiatrie1/Psychotherapie1/Psychosomatik1

  • bisher ausschließlich hausärztliche und/oder psychotherapeutische Behandlung und Behandlung mit Antidepressiva und geplante/bestehende Schwangerschaft

Psychiatrie1/Psychotherapie1/Psychosomatik1;
Gynäkologie/Geburtshilfe

  • bisher ausschließlich hausärztliche und/oder psychotherapeutische Behandlung und psychotische Symptomatik

Psychiatrie1

Klinische Situation

Überweisung*/interdisziplinäre Abstimmung

bisher ausschließlich hausärztliche Versorgung und

  • Vorliegen von Risikofaktoren für Chronifizierung oder Verschlechterung
  • längerfristige AU erwogen (> 6 Wochen)
  • Bedarf einer ergänzenden psychodiagnostischen bzw. testpsychologischen Abklärung, unklare psychiatrische Differentialdiagnostik (z. B. V. a. bipolare oder komorbide psychische Störungen)

Psychiatrie1/Psychotherapie1,2/
Psychosomatik1;
ggf. Soziotherapie

medikamentöse Behandlung und ausbleibende Besserung

ggf. Psychiatrie1/Psychotherapie1/Psychosomatik1; ggf. klinische Pharmazie3; ggf. Soziotherapie

psychotherapeutische Behandlung und ausbleibende Besserung

ggf. Psychiatrie1/andere Psychotherapie1,2/
Psychosomatik1; ggf. Soziotherapie

schwere somatische Komorbidität (z. B. Priorisierung bzw. Abstimmung von Medikation)

jeweiliges Fachgebiet;
Psychiatrie1/Psychotherapie1/Psychosomatik1

Multimorbidität, Multimedikation

betreffende Fachgebiete; Geriatrie, Gerontopsychiatrie/Psychiatrie; ggf. Apotheke/klinische Pharmazie3

bestehende Indikation für niedrigintensive Maßnahmen, z. B. behavioral activation

ggf. Ergotherapie, Soziotherapie

Prüfung und Durchführung arbeitsplatzbezogener Maßnahmen (z. B. Erprobung der Belastbarkeit)

Ergotherapie

drohende Erwerbsminderung, Teilhabeeinschränkungen

Beratungseinrichtungen für Teilhabeleistungen

bei pflegerisch betreuten Patient*innen

  • Abstimmung zwecks Arzneimitteltherapiesicherheit
  • Abstimmung bezüglich Monitoring
  • Benennen von Ansprechpartnern
  • Vereinbaren eines Notfallplans

psychiatrische Fachpflege, ambulante Pflegedienste, stationäre Einrichtungen der Altenpflege

*   Überweisung zur Konsiliar-, Mit- oder Weiterbehandlung

1   FÄ für Psychiatrie und Psychotherapie, FÄ für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, FÄ für Nervenheilkunde, FÄ für Neurologie und Psychiatrie (Nervenärzt*innen), FÄ für Psychotherapeutische Medizin sowie FÄ für Psychiatrie

2   Psychologische Psychotherapeut*innen und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen (bei Behandlung von Patient*innen ≥ 18 J.)

3   für Medikationsanalyse zwecks Ursachensuche bei Nichtansprechen und/oder zwecks Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS)

14.2.2 Apothekerische Versorgung

Empfehlung

Empfehlungsgrad

14-3 | neu 2022

Bei Anzeichen für depressive Symptome oder Suizidalität sollen Apotheker*innen aktiv das Gespräch mit den betroffenen Menschen suchen, ihnen Möglichkeiten der Unterstützung aufzeigen, sie zum Annehmen ärztlicher und/oder psychotherapeutischer Hilfe ermuntern und ggf. weiterleiten.

Starke Empfehlung

RationaleRationale

In der empirischen Evidenz fanden sich für die Einbindung von Apotheker*innen in spezielle Versorgungprogramme keine Effekte auf patientenrelevante Endpunkte. Die Leitliniengruppe sieht aber insbesondere für Patient*innen, die ein und dieselbe Apotheke häufig aufsuchen, die Chance, dass entsprechend sensibilisierte Apotheker*innen Hinweise auf depressive Störungen und Krisen wahrnehmen und die Patient*innen dazu anhalten können, sich behandeln zu lassen, um einer Chronifizierung oder einer suizidalen Eskalation vorzubeugen.

 Evidenzgrundlage Evidenzbasis

Die konsensbasierte Empfehlung beruht auf klinisch-praktischen Erwägungen. Die Evidenz aus systematischen Recherchen bezieht sich auf ein apothekenbasiertes bzw. -unterstütztes Fallmanagement, das nicht Inhalt in der Empfehlung ist.

 Evidenzbeschreibung Evidenzbeschreibung

In der themenübergreifenden systematischen Recherche wurde ein Review zur apothekenbasierten Versorgung (z. B. Psychoedukation, Medikamentenmanagement, Adhärenzförderung, Beratung) identifiziert. In 12 RCT fand sich im Vergleich zur Standardversorgung keine Evidenz für einen Unterschied bezüglich der Verbesserung der depressiven Symptomatik. Zwar stieg die Medikamentenadhärenz, doch war dies nicht mit einer Verbesserung patientenrelevanter Endpunkte verbunden 30229. In der systematischen Recherche zu komplexen Versorgungsformen wurde zudem ein qualitativ akzeptabler Review zur kollaborativen Versorgung mit Einbindung von Apotheken identifiziert. Er berichtet eine signifikante Verbesserung (heterogene Endpunkte) in 4 von 6 Studien 31548. Die Evidenzqualität ist für beide Arbeiten niedrig bis sehr niedrig, da die komplexen Interventionen nicht verblindet verglichen wurden, insgesamt nur wenige und kleine Studien mit hoher PICO-Heterogenität vorlagen und in manchen Studien die Interventionen nicht auf Apotheken begrenzt waren, sondern beispielsweise auch Fallmanager umfassten. Innerhalb von komplexen Versorgungsformen wie Collaborative Care lässt sich der spezifische Anteil der Einbindung von Apotheken an den Gesamteffekten nicht darstellen.

 Überlegungen Erwägungen, die die Empfehlung begründen

Apotheken sind gut erreichbar und werden von den Patient*innen häufig aufgesucht (z. B. alle 3 Monate bei Rezepteinlösung). Daher betrifft eine spezifische Rolle der Apotheken bei Menschen mit depressiven Störungen die Sensibilisierung, Information, Beratung und Weiterleitung bisher nicht behandelter Patient*innen, die ihnen z. B. durch wiederholte Selbstmedikationswünsche (z. B. Johanniskraut, Sedativa, Hypnotika, Analgetika) oder auch durch ihr Auftreten, entsprechende Äußerungen, typische somatische Symptome oder auch diffuse Beschwerden wie Kopfschmerzen, Abgeschlagenheit, Schlafstörungen oder Konzentrationsschwäche auffallen.

Bei bekannter depressiver Störung können Apotheker*innen vielleicht auch Anzeichen für Verschlechterung und suizidale Krisen erkennen, beispielsweise anhand entsprechender Äußerungen oder wenn ihnen auffällt, dass die Patient*innen sich suizidtaugliche Medikamente durch verschiedene Ärzt*innen verschreiben lassen. In diesem Fall können sie Möglichkeiten der Unterstützung aufzeigen und die Patient*innen weiterleiten (ambulante Praxen, Beratungsstellen, Telefonseelsorge, Krisenintervention). Dazu existiert ein spezifischer Gesprächsleitfaden der Bundesapothekerkammer.

Eine wichtige, aber nicht depressionsspezifische Aufgabe von Apotheken sind Maßnahmen zur Erhöhung der Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS). Unabhängig von der Erkrankung betreffen daher existierende Empfehlungen zum bundeseinheitlichen Medikationsplan, zur Wahl von Stammapotheken sowie zur Kommunikation zwischen Ärzt*innen und Apotheker*innen alle Patient*innen mit Multimedikation (siehe S3-Leitlinie Multimedikation 31561).

 Tabelle Tabelle 45: Aufgabenbereiche von Apotheker*innen bei Patient*innen mit depressiven Störungen

Tabelle 45: Aufgabenbereiche von Apotheker*innen bei Patient*innen mit depressiven Störungen

  • Erkennen von Risikopatient*innen und Krisensituationen und ggf. Zuweisung in ärztliche Behandlung
  • Beratung und Information
  • Interaktionsmanagement (inkl. Selbstmedikation)
  • Medikationsanalyse bei Polymedikation
  • Adhärenzförderung
  • Nebenwirkungsmanagement
  • durch Stationsapotheken/klinische Pharmazie: Visitenbegleitung, Therapeutisches Medikamentenmonitoring, Pharmakogenetische Testungen, Psychoedukation (einzeln oder in Gruppen)
 Informationen Weiterführende Informationen: Gesprächsleitfaden "Suizidale Menschen in der Apotheke"

14.3 Koordination der sektorenübergreifenden Versorgung

Zur Koordination mit stationären rehabilitativen Angeboten siehe Kapitel 13.2 Medizinische Rehabilitation.

14.3.1 Einweisungskriterien für eine stationäre Versorgung

Empfehlung

Empfehlungsgrad

14-4 | neu 2022

Eine stationäre Einweisung soll entsprechend den in Tabelle 46 aufgeführten Indikationen geprüft oder im Notfall veranlasst werden.

Starke Empfehlung

 Tabelle Tabelle 46: Indikationen für eine stationäre Einweisung

Tabelle 46: Indikationen für eine stationäre Einweisung

Notfallindikation1,2,3

  • akute Selbst- oder Fremdgefährdung
  • depressiver Stupor

Einweisung prüfen4

  • wenn nach einem Suizidversuch medizinische Versorgung notwendig ist
  • wenn eine hinreichend zuverlässige Einschätzung des Weiterbestehens der Suizidalität nicht möglich ist
  • wenn die Etablierung einer tragfähigen therapeutischen Beziehung nicht gelingt und die Person trotz initialer Behandlung akut suizidal bleibt
  • bei Therapieresistenz gegenüber ambulanten Therapien
  • bei der starken Gefahr einer (weiteren) Chronifizierung
  • bei so schweren Krankheitsbildern, dass die ambulanten Therapiemöglichkeiten nicht ausreichen
  • bei hochgradiger Agitiertheit
  • bei ausgeprägten psychotischen Symptomen
  • bei drohender depressionsbedingter Isolation, Verwahrlosung und anderen schwerwiegenden psychosozialen Faktoren
  • bei den Therapieerfolg massiv behindernden äußeren Lebensumständen (z. B. durch Milieuänderung)
  • bei komorbiden Suchterkrankungen
  • bei Dekompensation einer komorbiden somatischen Erkrankung infolge der Depression

1  siehe auch Kapitel 12 Management bei Suizidalität und anderen Notfallsituationen

2 Fehlen bei Vorliegen einer Notfallindikation sowohl Bereitschaft zur stationären Aufnahme als auch Absprachefähigkeit, kann bzw. muss eine stationäre Einweisung gegen den Willen der Patient*innen erfolgen (vgl. Kapitel 12.1.3 Klärung des Behandlungssettings, Einweisungskriterien).

3 in der Regel Einweisung in psychiatrische Kliniken/Fachabteilungen

4  Einweisung zur psychiatrisch-psychotherapeutischen bzw. psychosomatisch-psychotherapeutischen Versorgung in entsprechende Fachkrankenhäuser, Universitätsabteilungen oder entsprechende Fachabteilungen in Allgemeinkrankenhäusern

RationaleRationale

Neben eindeutigen Notfallindikationen, die mit akuter Lebensgefahr einhergehen, existieren weitere Indikationen, bei denen eine stationäre Behandlung hilfreich sein kann, aber nicht zwingend notwendig ist. Dies ist immer dann der Fall, wenn eine ambulante Behandlung nicht die in der individuellen Situation erforderliche multidisziplinäre und engmaschige Betreuung gewährleisten kann, um eine (weitere) Dekompensation hin zur Notfallsituation zu verhindern. Aber auch schwerwiegende psychosoziale Faktoren können Anlass sein, eine stationäre Einweisung zu prüfen, beispielsweise wenn die äußeren Lebensumstände (z. B. massive familiäre Konflikte, häusliche Gewalt, drohender Verlust von Arbeitsplatz oder Wohnung) eine weitere psychische Destabilisierung zur Folge haben und den Erfolg einer ambulanten Behandlung massiv behindern oder wenn die Gefahr einer depressionsbedingten Isolation besteht.

Zum psychiatrischen Notfall siehe Kapitel 12 Management bei Suizidalität und anderen Notfallsituationen.

 Evidenzgrundlage Evidenzbasis

Die konsensbasierte Empfehlung beruht auf Sicherheitsaspekten und guter klinischer Praxis. Siehe auch S2k-Leitlinie Notfallpsychiatrie 31821.

 Kapitel Versorgungspraktische Aspekte bei Einweisung in stationäre Behandlung

Bei einer stationären Einweisung von Patient*innen mit depressiven Störungen kommen prinzipiell sowohl psychiatrische Kliniken, psychosomatische/psychotherapeutische Stationen wie auch psychosomatische Kliniken infrage. Es gibt – außer bei psychiatrischen Notfällen, bei denen die Einweisung in psychiatrische Akutstationen erfolgt – keine klare Indikationstrennung zwischen den psychiatrisch-psychotherapeutischen und den psychosomatisch-psychotherapeutischen Kliniken/Fachabteilungen.

Die Leitliniengruppe formuliert als Versorgungsproblem, dass der Medizinische Dienst wiederholt die Berechtigung einer stationären Behandlung in psychosomatischen Akutkliniken infrage stellt.

Eine primäre Einweisung in somatische Kliniken kommt infrage, wenn die Behandlung der dekompensierten Komorbidität erst einmal im Vordergrund steht.

Die Leitliniengruppe nimmt einen regionalen Mangel an Akutpsychotherapie-Stationen (Krisenstationen) wahr. In der Folge kommt es teils zu Einweisungen in geschlossene psychiatrische Stationen, ohne dass Selbst- oder Fremdgefährdung vorliegt, mit entsprechenden negativen Effekten auf die Patient*innen.

Bei allen Fällen außerhalb von Notfallsituationen ist es aus Erfahrung der Leitliniengruppe wichtig, bei der Indikationsstellung mitzubedenken, wie ggf. die Versorgung von Kindern oder pflegebedürftigen Angehörigen der Patient*innen sichergestellt werden kann.

Um Klinikeinweisungen zu vermeiden und Klinikaufenthalte zu verkürzen, kommen komplexe Versorgungsformen (ambulante Komplexbehandlung, stationsäquivalente Leistungen) infrage (siehe Kapitel 14.4 Strukturierte und komplexe Versorgungsformen).

14.3.2 Entlassmanagement

Empfehlung

Empfehlungsgrad

14-5 | neu 2022

Um eine kontinuierliche Versorgung der Patient*innen mit depressiven Störungen zu gewährleisten, sollen nach akutstationärer Behandlung im Rahmen des interprofessionellen Entlassmanagements die in Tabelle 47 aufgeführten Maßnahmen rechtzeitig vor der Entlassung durchgeführt werden.

Starke Empfehlung

 Tabelle Tabelle 47: Maßnahmen bei Entlassung von Patient*innen mit depressiven Störungen aus akutstationärer Behandlung

Tabelle 47: Maßnahmen bei Entlassung von Patient*innen mit depressiven Störungen aus akutstationärer Behandlung

bei allen Patient*innen:

  • frühzeitiger Einbezug der Angehörigen und ggf. der Pflegeeinrichtung, das Einverständnis der Patient*innen vorausgesetzt
  • Aushändigung eines vollständigen Berichtes inkl. detailliertem Behandlungsvorschlags zur Dosierung (Auftitration, Ausschleichen) der verschriebenen Medikamente, möglichst per bundeseinheitlichem Medikationsplan; ggf. Hinweis auf eine "off label"-Behandlung mit Begründung und mit Hinweis auf die sich daraus für die ambulante Behandlung ergebenden Konsequenzen
  • Kommunikation mit weiterbehandelnden Hausärzt*innen und/oder Psychiater*innen und Vereinbarung fester Termine innerhalb einer Woche zur ambulanten Nachkontrolle und für Folgeverschreibungen und ggf. weiterer Krankschreibungen
  • Kommunikation mit weiterbehandelnden Psychotherapeut*innen zwecks Übergang zu ambulanter Richtlinientherapie, ggf. Durchführung probatorischer Sitzungen bereits während des stationären Aufenthalts
  • Vereinbarung und Aushändigung eines konkreten Aktions- und Notfallplans für die Patient*innen (siehe Kapitel 12 Management bei Suizidalität und anderen Notfallsituationen); Beratung bezüglich in der Region bestehender Selbsthilfe-Angebote bzw. örtlicher Selbsthilfe-Kontaktstellen

ggf. prüfen:

  • Verordnung und/oder Mitgabe von Arzneimitteln für einen Übergangszeitraum1
  • Verordnung von Heilmitteln (z. B. Ergotherapie) oder Soziotherapie für einen Übergangszeitraum2
  • Verordnung von (psychiatrischer) häuslicher Krankenpflege für einen Übergangszeitraum2
  • Feststellung einer Arbeitsunfähigkeit für einen Übergangszeitraum2
  • Prüfung der Einbindung der Patient*innen in ein strukturiertes Programm oder in komplexe Versorgungsformen, ggf. Initiierung der Einschreibung
  • Planung aufsuchender Versorgungsformen, wenn die Patient*innen nicht in der Lage sind, eine ambulante Behandlung wahrzunehmen
  • Einleitung von Maßnahmen zur Rehabilitation und Teilhabe (z. B. Wiedereingliederungsmaßnahmen)

Die Tabelle konkretisiert und ergänzt das gesetzlich vorgeschriebene Entlassmanagement (§39 GBA Richtlinie) für Patient*innen mit depressiven Störungen.

1  Verordnung der kleinsten Packungsgröße; Mitgabe vor Wochenenden/Feiertagen; detaillierte Regelungen siehe Arzneimittel-Richtlinie 32004

2  in der Regel bis zu 7 Kalendertage; detaillierte Regelungen siehe jeweilige Richtlinien 32002, 32001, 32000, 32003

RationaleRationale

Patient*innen, die wegen depressiver Störungen stationär betreut wurden, sind in der Zeit nach der Entlassung besonders vulnerabel bezüglich Rückfällen und Suizidalität. Daher ist eine lückenlose Weiterbetreuung wichtig. Die Empfehlung zielt auf eine Verbesserung von Problemen, die sich an der Schnittstelle zwischen stationärer und ambulanter Versorgung ergeben. Die in Tabelle 47 aufgeführten Maßnahmen konkretisieren und ergänzen dazu das gesetzlich vorgeschriebene Entlassmanagement (§39 GBA Richtlinie) für Patient*innen mit depressiven Störungen.

 Evidenzgrundlage Evidenzbasis

Die Empfehlung basiert auf indirekter Evidenz zum Risiko für Suizide und Rehospitalisierungen nach stationärer Behandlung sowie auf von der Leitliniengruppe in der täglichen Praxis wahrgenommenen Versorgungsproblemen.

 Überlegungen Erwägungen, die die Empfehlung begründen

Bei Patient*innen, die aus psychiatrischen Gründen stationär behandelt wurden, ist das Suizidrisiko beim Übergang in die ambulante Versorgung hoch: 41% der Suizide werden vor dem ersten Nachsorgetermin begangen, 25% innerhalb von 3 Monaten (31940, zitiert nach 31719. Wenn die Versorgung unterbrochen wird, steigt auch das Risiko, dass sich die Symptomatik wieder verschlimmert und die Patient*innen erneut stationär eingewiesen werden.

Das wichtigste Problem an der Schnittstelle zwischen stationärer und ambulanter Behandlung von Patient*innen mit depressiven Störungen ist aus Erfahrung der Leitliniengruppe die mangelnde zeitnahe Verfügbarkeit einer ambulanten Psychotherapie. Hinzu kommt, dass Patient*innen, die aufgrund der Schwere ihrer Erkrankung oder wegen Suizidalität akut stationär aufgenommen wurden, meist nicht in der Lage sind, sich selbst um eine ambulante psychotherapeutische Nachbetreuung zu kümmern. Seit 2021 besteht die Möglichkeit, probatorische Sitzungen für schwer psychisch kranke Menschen schon während des stationären Aufenthaltes durchzuführen. Dazu können die niedergelassenen Psychotherapeut*innen entweder in die Klinik kommen oder aber die Patient*innen suchen die Praxis auf und kehren dann in die Klinik zurück. Auch die Einbindung in komplexe Versorgungsprogramme ggf. mit aufsuchendem Charakter kann eine Option darstellen (siehe Kapitel 14.4 Strukturierte und komplexe Versorgungsformen).

Ein zweites Problem betrifft die Verschreibung von Arzneimitteln und die Verordnung von Heil- und Hilfsmitteln wie z. B. Ergo- und Soziotherapie sowie (psychiatrischer) häuslicher Krankenpflege. Diese darf aus der Klinik heraus nur für einen sehr kurzen Zeitraum erfolgen. Jedoch sind ambulante Termine innerhalb einer Woche nur schwer zu bekommen, sofern die Patient*innen überhaupt in der Lage sind, sich selbst darum zu kümmern. Daher empfiehlt sich die Kontaktaufnahme zu den entsprechenden Behandelnden und die Vereinbarung konkreter Termine bereits aus der Klinik heraus und rechtzeitig vor der Entlassung.

Für manche Patient*innen können Angebote der Selbsthilfe hilfreiche ergänzende Maßnahmen darstellen (siehe Kapitel 9.3 Selbsthilfe und Peer Support). Um diese Angebote zeitnah nach der Entlassung nutzen zu können, benötigen die Patient*innen Informationen über die jeweiligen regionalen Möglichkeiten. Sofern die Klinik keine konkreten Angebote benennen und ggf. bereits den Kontakt herstellen kann, können sich die Patient*innen bei den örtlichen Selbsthilfe-Kontaktstellen (www.nakos.de/adressen/rot) entsprechend beraten lassen.

 Informationen Weiterführende Informationen: Gesetzliches Entlassmanagement, Checkliste Schnittstellenmanagement
  • Informationen zum Verordnen im Rahmen gesetzlichen Entlassmanagements: www.kbv.de/html/entlassmanagement.php 32005
  • Checkliste zum ärztlichen Schnittstellenmanagement zwischen den Versorgungssektoren speziell in Deutschland: Einweisung, Stationäre Aufnahme, Entlassungsvorbereitung, Entlassungstag:
    www.aezq.de/mdb/edocs/pdf/info/checklisten-schnittstellenmanagement.pdf

14.4 Strukturierte und komplexe Versorgungsformen

Empfehlung

Empfehlungsgrad

14-6 | neu 2022

Insbesondere Patient*innen mit mittelgradiger oder schwerer Symptomatik und ≥ 1 Jahr Erkrankungsdauer soll eine der Indikation angemessene multiprofessionelle, strukturierte und koordinierte Versorgung angeboten werden.

Starke Empfehlung

RationaleRationale

Internationale und nationale Studien zeigen bei kleinen Effektstärken und niedriger Evidenzqualität, aber konsistent die Effektivität strukturierter und komplexer Versorgungsformen bei depressiven Störungen, und zwar weitgehend unabhängig vom Schweregrad, von einer Chronifizierung und vom Vorliegen von Komorbidität. Eine Einbindung aller Patient*innen mit depressiven Störungen erscheint der Leitliniengruppe weder aus klinischer Sicht geboten, noch in der Versorgungsrealität in Deutschland umsetzbar. Daher schränkt die Leitliniengruppe in Abwägung von zu erwartendem Nutzen und gesundheitsökonomischem wie zeitlichem Aufwand die Empfehlung auf Patient*innen mit mindestens einem Jahr Erkrankungsdauer und mindestens mittlerem Schweregrad ein.

Je nach Schwere der depressiven Symptomatik und Grad der Einschränkungen von Funktionsfähigkeit und Teilhabe erscheinen unterschiedlich intensive Modelle adäquat, beginnend mit ambulanten strukturierten Programmen über eine sektorübergreifende Versorgung bis hin zu aufsuchenden Formen für schwer psychisch kranke Menschen (Tabelle 48).

 Tabelle Tabelle 48: Indikation und Inhalte komplexer Versorgungsformen für depressive Störungen in Deutschland

Tabelle 48: Indikation und Inhalte komplexer Versorgungsformen für depressive Störungen in Deutschland

 

DMP Depression

Psychiatrische / psychosomatische Institutsambulanzen

ambulante Komplexbehandlung

stationsäquivalente Leistungen

IV-Verträge

Rechts-grundlagen

  • Disease Management Programm der Gesetzlichen Krankenkassen nach § 137f Abs. 2 SGB V
  • G-BA DMP-A-RL
  • Ambulante Krankenhaus-leistungen nach § 118 SGB V
  • PIA/PsIA-Vereinbarung
  • Selektivverträge mit Krankenkassen
  • Multiprofessionelle Netzverbünde aus Fachärzt*innen und Psycho-therapeut*innen nach § 92 Abs. 6b SGB V
  • KSV-Psych-RL
  • Stationsäquivalente psychiatrische Behandlung (StäB) nach § 115d, SGB V
  • PsychVVG
  • Selektivverträge der integrierten Versorgung nach § 140a–d SGB V

Indikation

  • mittelgradige oder schwere Symptomatik
  • ≥ 1 Jahr Erkrankungsdauer oder min 3. akute Episode (2. Rezidiv/Rückfall)
  • Diagnose einer schweren psychischen Erkrankung (F0–F6; PsIA: F3–F6)
  • Behandlung in ambulanter Praxis nicht möglich / ausreichend aufgrund Art, Schwere oder Dauer der Erkrankung
  • Diagnose einer schweren psychischen Erkrankung (F1–F9)
  • GAF-Wert ≤ 50
  • Behandlungsbedarf durch mindestens zwei verschiedene Berufsgruppen
  • Indikation für stationäre psychiatrische Behandlung
  • Therapieziele lassen sich im häuslichen Umfeld besser erreichen
  • Zustimmung durch die Haushaltsmitglieder
  • Möglichkeit der ungestörten Behandlung gegeben
  • heterogen je nach Krankenkasse

Inhalte

  • Fallmanager*in (in der Regel Hausärzt*innen)
  • Vorgaben zur Überweisung und Kommunikation mit FÄ für Psychiatrie und Psycho-therapeut*innen
  • strukturiertes Monitoring
  • (digitale) Patientenschulungen
  • Vorgaben zur Veranlassung von Leistungen zur Rehabilitation und Teilhabe
  • Dokumentations-pflicht, Qualitätssicherung
  • nicht sektorübergreifend (außer: definierte Einweisungskriterien)
  • multimodale und multiprofessionelle Behandlung: fachärztliche + psycho-therapeutische + spezial-therapeutische (Ergotherapie u. a) + sozialpädagogische Angebote, pflegerische Leistungen
  • Diagnostik und Behandlungs-planung
  • psycho-therapeutische Einzel- und Gruppentherapien
  • medikamentöse Einstellung und Monitoring
  • Sozialberatung
  • Bezugs-psychotherapeut*in bzw. -ärzt*in
  • Koordination der Leistungen durch nichtärztliches Personal auf Veranlassung der / des Bezugsärzt*in bzw. -psychotherapeut*in
  • Erstellung eines Gesamtbehandlungs-plans inkl. Leistungen zu Rehabilitation und Teilhabe
  • Kooperation mit ≥ 1 Leistungserbringer*in der ambulanten psychiatrischen Krankenpflege, Soziotherapie oder Ergotherapie
  • sektorübergreifend: Kooperation mit ≥ 1 psychiatrischen Krankenhaus
  • StäB-Team: ärztlicher + pflegerischer Dienst + ≥ 1 Vertreter einer weiteren Berufsgruppe
  • Behandlung im Lebensumfeld (aufsuchende Versorgung)
  • ≥ 1 persönlicher Kontakt / Tag; 7 Tage / Woche
  • 24 Std. klinische Therapie-verantwortung, jederzeit stationäre Aufnahme möglich
  • wöchentlich multiprofessionelle Fallbesprechung, Visite
  • keine Koordination mit anschließender ambulanter Versorgung, Teile der StÄB an ambulante Leistungserbringer delegierbar
  • heterogen, je nach Programm
  • häufig nicht-ärztliches Fallmanagement und fehlende Einbindung hausärztliche / ambulante psychiatrische bzw. psychotherapeutische Versorurgung

Teilnahme

  • Einschreibung durch Hausärzt*innen und Krankenkassen, im Ausnahmefall durch FÄ für Psychiatrie / Psychotherapie / Psychosomatik oder spezalisierte Zentren
  • nicht durch Psycho-therapeut*innen
  • Überweisung durch FÄ für Psychiatrie / Psychotherapie / Psychosomatik
  • direkte Überleitung nach stationärer Behandlung
  • Zugang über FÄ oder Psycho-therapeut*innen des Netzverbunds
  • Zugang über die teilnehmenden Kliniken oder durch Einweisung durch niedergelassenene Ärzt*innen oder Psychotherapeut*innen
  • Einschreibung durch Kliniken und Krankenkassen

Verfügbarkeit

  • flächendeckend geplant, Stand 2021 aber noch nicht umgesetzt
  • abhängig von regionaler Verfügbarkeit
  • PsIA seit 2019
  • Start für 2022 erwartet
  • abhängig von regionaler Verfügbarkeit
  • abhängig von regionaler Verfügbarkeit
  • nicht für jede Krankenkasse / in jedem Bundesland verfügbar
 Evidenzgrundlage Evidenzbasis

Es erfolgte eine systematische Recherche nach aggregierter Evidenz. Ein Cochrane-Review, der vor dem gewählten Suchzeitraum publiziert worden war, wurde selektiv ergänzt, weil viele der jüngeren Übersichtsarbeiten auf ihn Bezug nehmen. Zusätzlich erfolgte eine systematische Recherche nach RCT aus dem deutschen Versorgungskontext, um die Machbarkeit der Ansätze im deutschen Versorgungskontext zu prüfen sowie spezielle Barrieren und Herausforderungen zu identifizieren. Versorgungsdaten wurden aus der Recherche zum DMP Depression übernommen.

 Evidenzbeschreibung Evidenzbeschreibung

Ein qualitativ hochwertiger Cochrane-Review zu kollaborativen Modellen bei depressiven Störungen und Angsterkrankungen (N = 79, n = 24 308) fand im Vergleich zur Standardbehandlung signifikante Ergebnisse bezüglich der depressiven Symptomatik für verschiedene Zeiträume bei kleiner Effektstärke (SMD -0,28 bis -0,34; N = 1 bis N = 30, n = 5 984), ebenso für die mentale Lebensqualität (SMD 0,10 bis 0,26; N = 2 bis N = 14, n = 4 954). Es ergaben sich keine Hinweise auf Unterschiede zwischen kollaborativen Modellen mit medikamentöser oder psychotherapeutischer Behandlung. Die Evidenzqualität ist niedrig, da es sich um komplexe Interventionen ohne Verblindung handelt, die Samples eher klein waren, eine hohe PICO-Heterogenität vorliegt und nicht nur Patient*innen mit diagnostizierter Depression eingeschlossen waren (Indirektheit) 31816.

Eine qualitativ gute Übersichtsarbeit untersuchte kollaborative Programme bei Patient*innen mit Depressionen (inkl. Dysthymie) und chronischen Erkrankungen (Akutes Koronarsyndrom, Arthritis, Krebs, COPD, Diabetes m., Epilepsie u. a.; N = 20, n = 4 774). Die depressive Symptomatik verbesserte sich gering (d = 0,35 (95% KI 0,29; 0,42); N = 20, n = 4 774), die Ansprechraten waren signifikant höher (OR 1,90 (95% KI 1,70; 2,12); I2 < 0,01%); die Krankheitslast (somatische und Depressions-Endpunkte) sank (OR 1,64 (95% KI 1,47; 1,83); d = 0,27 (95% KI 0,21; 0,33); I2 = 0,1%; N = 20, n = 4 774) 31529. Ein weiterer qualitativ guter Review auf Individualdatenbasis (N = 31, n = 10 753) zum Effekt von chronischen somatischen Erkrankungen auf die Effektivität von Collaborative Care bei Depressionen fand einen kleinen Effekt auf die depressive Symptomatik nach 4 bis 6 Monaten (SMD -0,22 (95% KI -0,25; -0,18); I2 = 0,8%; N = 36), wobei sich die Effektstärken von Patient*innen mit Komorbidität (SMD -0,21 (95% KI -0,27; -0,15); I2 = 0,9%; N = 29) nicht signifikant von denen ohne Komorbidität (SMD −0,23 (95% KI, -0,32; -0,12); I2 = 0,9%; N = 20) unterschieden (Interaktionskoeffizient 0,02 (95% KI −0,10; 0,13). Allerdings ergab sich ein stärkerer Effekt in Studien, die ausschließlich Patient*innen mit Komorbidität rekrutiert hatten (Study-level-Analyse) 31517. Die Evidenzqualität beider Arbeiten ist als niedrig zu bewerten, da es sich um unverblindete komplexe Interventionen handelt, die PICO-Heterogenität hoch, die Präzision gering und die Direktheit eingeschränkt ist.

Eine qualitativ akzeptable Übersichtsarbeit (N = 94, n = 24 132) suchte nach Moderatoren der Effekte kollaborativer Versorgung. Es ergab sich eine Beeinflussung der depressiven Symptomatik durch die Art der Terminvereinbarung (vorgeplant vs. ad hoc: RR -0,16 (95% KI -0,27; -0,04)), wohingegen es keinen Unterschied zwischen telefonbasiertem und persönlichem Monitoring oder der Intervention (Psychotherapie vs. medikamentöse Therapie vs. Kombinationsbehandlung) gab 31541. Ein qualitativ hochwertiger Review untersuchte den Effekt kollaborativer Versorgung auf Suizidalität (N = 28, n = 11 688). Es ergaben sich signifikante Ergebnisse, die jedoch unter der Schwelle klinischer Relevanz blieben 31731. Die Evidenzqualität ist aus den oben beschriebenen Gründen als niedrig zu bewerten.

Ein qualitativ hochwertiger Review untersuchte die Effekte eines intensiven Fallmanagements (Assertive Community Treatment + Case Management) bei verschiedenen psychischen Erkrankungen (N = 40, n = 7 524). Es ergab sich eine signifikante Verringerung der Krankenhaustage (MD -0,86; N = 24, n = 3 595; Evidenzqualität niedrig). Dabei war der Effekt umso größer, je häufiger die Patient*innen vor Studienbeginn schon stationär behandelt worden waren und je mehr aufsuchende Elemente die Intervention umfasste. Die Anzahl der Patient*innen ohne Arbeit (RR 0,70 (95% KI 0,49, 1,0); Evidenzqualität sehr niedrig) und die Suizidrate (Evidenzqualität niedrig) wurden nicht signifikant beeinflusst 31524.

Die identifizierten RCT, die in Deutschland zu kollaborativen Programmen durchgeführt wurden, bestätigen im Wesentlichen die Ergebnisse der internationalen Studien 31554, 31538, 31493, 31518, 31492, 31534, 31498, 31530. Auf eine ausführliche Darstellung der Effekte wird hier verzichtet (siehe dazu Evidenztabellen im Leitlinienreport 32140). In qualitativen Analysen wurden als Barrieren Kommunikationsprobleme, eine ungünstige regionale Verteilung der Beteiligten und interprofessionelle Diskrepanzen (Rollen, Kompetenzen, Wertschätzung) beschrieben 31554; als förderlich benannten Patient*innen eine nicht-mechanistische, vertrauenswürdige und einfühlsame Umsetzung sowie die regelmäßige und aktive Kontaktaufnahme durch die beteiligten Praxen 31496. Die Leitlinientreue wie auch die Übereinstimmung zwischen Behandlungsauswahl und tatsächlicher Behandlung variierte nach Schweregrad, wobei die Defizite bei der adäquaten Behandlung schwerer depressiver Störungen möglicherweise auf eine Nicht-Verfügbarkeit von Psychotherapie-Plätzen zurückzuführen sein könnte 31512.

 Überlegungen Erwägungen, die die Empfehlung begründen

Zwischen dem Auftreten depressiver Beschwerden und der Inanspruchnahme einer Behandlung liegt häufig eine lange Zeit; die Hälfte der Patient*innen zögert mehr als 5 Jahre, ehe sie ärztliche oder psychotherapeutische Unterstützung sucht (31933, 31934 zit. nach 31945). Zugrunde liegen vor allem Stigmatisierungsängste, besonders bei Männern, älteren Menschen und Personen ohne vorherigen Kontakt zur psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung (31935, zit. nach 31945). Dies verdeutlicht die große Relevanz einer langfristigen therapeutischen Beziehung zur Hausärztin oder zum Hausarzt. Sie kann dazu beitragen, Barrieren zur Inanspruchnahme einer Behandlung bei depressiven Störungen zu reduzieren und zu einer höheren Akzeptanz von Überweisungen zur fachspezifischen Behandlung führen.

Bei depressiven Störungen, die 1 Jahr oder länger persistieren, ist kaum noch eine Remission zu erwarten. Und je mehr Rezidive bereits aufgetreten sind, umso höher ist das Risiko eines erneuten Rezidives oder der Chronifizierung (vgl. Kapitel 1.4.1 Rückfall- und Rezidivrisiko sowie 1.4.2 Risikofaktoren für Nichtansprechen und Chronifizierung). Daher beurteilt die Leitliniengruppe den Beginn einer strukturierten Versorgung gemäß der üblichen Definition einer chronifizierten Depression, d. h. nach 2 Jahren, als zu spät.

 Informationen Weiterführende Informationen: Formen strukturierter und komplexer Versorgung

Die einfachste Form einer strukturierten Versorgung stellt das Fallmanagement (Case Management) dar. Der oder die Fallmanager*in koordiniert die verschiedenen an der Versorgung beteiligten Akteure bzw. Maßnahmen unterschiedlicher Leistungserbringer*innen (Ärzt*innen, Psycho- und andere Therapeut*innen, Sozialarbeiter*innen, Gesundheitsfachkräfte, Pflegekräfte). Fallmanager*innen können sowohl ärztliche als auch geschulte nicht-ärztliche Personen sein.

Collaborative Care umfasst eine multidisziplinäre Versorgung mit speziellen Kommunikationsstrukturen für die Akteure, ein Fallmanagement, einen strukturierten Behandlungsplan und festgelegte Monitoring-Termine. Häufig werden gestufte Modelle ("Stepped Care") in kollaborative Modelle integriert, um den Übergang zwischen verschiedenen Intensitätsstufen und damit eventuell wechselnden Behandelnden zu gewährleisten. Die Behandlung beginnt dann mit der jeweils leitliniengerechten Intervention der geringsten Behandlungsintensität. Durch regelmäßiges Monitoring des Therapieverlaufs kann die Behandlung bei Nichtansprechen auf der nächst höheren Intensitätsstufe fortgesetzt werden.

In Deutschland wurden kollaborative bzw. gestufte Modelle in der Vergangenheit durch Verträge der integrierten Versorgung zwischen Leistungserbringenden und Krankenkassen ermöglicht. Dies resultierte in einer fragmentierten Versorgung, da keine regionale Versorgungsverpflichtung bestand. Inhalt und Verfügbarkeit der Programme waren heterogen. Durch die Einführung des Disease Management Programms (DMP) Depression soll die flächendeckende Versorgung gesetzlich versicherter Patient*innen mit einem strukturierten Programm ermöglicht werden.

Eine weitere Versorgungsform für schwer psychisch kranke Versicherte mit komplexem psychiatrischen oder psychotherapeutischen Behandlungsbedarf stellt seit 2021 die ambulante Komplexbehandlung durch lokale Netzwerke dar (Versorgung nach § 92 Abs. 6b SGB V). Sie umfasst auch eine sektorenübergreifende Zusammenarbeit zwischen ambulanten und stationären Leistungserbringer*innen (Tabelle 48).

In anderen Ländern verfügbare aufsuchende Versorgungsformen für Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen (z. B. "Assertive Community Treatment", "Home Treatment", "Community Mental Health Teams") existieren in Deutschland nicht. Lediglich vereinzelte Angebote der integrierten Versorgung umfassen auch aufsuchende Elemente. Eine Alternative stellen stationsäquivalente Leistungen nach § 115d, SGB V dar, bei der anstelle einer vollstationären Behandlung die psychiatrische Behandlung im häuslichen Umfeld erfolgt (Tabelle 48). Psychiatrische häusliche Krankenpflege (siehe Kapitel 9.7 Psychiatrische Häusliche Krankenpflege) als gemeindepsychiatrisches Angebot stellt zwar auch ein aufsuchendes Angebot dar, umfasst aber keine ärztliche und (psycho-)therapeutische Betreuung.

NVL Unipolare Depression, Version 3.2, 2022

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  • Langfassung

    NVL Unipolare Depression, Version 3.2, 2022

  • Kurzfassung

    NVL Unipolare Depression, Version 3.2, 2022

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zuletzt verändert: 04.07.2023 | 17:53 Uhr