NVL Unipolare Depression (2022)

12 Management bei Suizidalität und anderen Notfallsituationen

Die Empfehlungen in diesem Kapitel beziehen sich ausschließlich auf das Vorgehen bei Suizidalität im Zusammenhang mit schweren depressiven Erkrankungen, ausdrücklich nicht auf Suizidalität in anderen Kontexten (z. B. bei schweren somatischen Erkrankungen). Diese Einschränkung trifft die Leitliniengruppe vor dem Hintergrund neuer rechtlicher Entwicklungen und Debatten zu assistiertem Suizid und der damit verbundenen Kontroverse um freie Willensbildung bei psychischen Erkrankungen.

Informationen zum Umgang mit Suizidalität und anderen psychiatrischen Notfällen außerhalb des Kontextes depressiver Störungen bieten andere Leitlinien:

12.1 Vorgehen bei Suizidalität

Für die Suizidprävention bei suizidalen depressiven Patient*innen (aber auch bei anderen psychisch kranken Menschen oder Menschen in suizidalen Krisen) hat sich im Rahmen der Krisenintervention das BELLA-System 31815 etabliert:

12.1.1 Gesprächs- und Beziehungsangebot

Empfehlung

Empfehlungsgrad

12-1 | modifiziert 2022

Suizidalen Patient*innen soll eine besondere Beachtung und Betreuung im Sinne einer Intensivierung des zeitlichen Engagements und der therapeutischen Bindung (Tabelle 40) angeboten werden.

Starke Empfehlung

12-2 | neu 2022

Die Prinzipien der partizipativen Entscheidungsfindung sollen auch im Umgang mit suizidalen Patient*innen gewahrt werden.

Starke Empfehlung

RationaleRationale

Die konsensbasierten Empfehlungen zielen auf die Sensibilisierung aller an der Versorgung beteiligten Personen, da eine tragfähige therapeutische Beziehung bei suizidalen Menschen suizidpräventiv wirken kann. Ist Absprachefähigkeit gegeben, empfiehlt die Leitliniengruppe, auch suizidale Patient*innen über alle Behandlungsaspekte transparent aufzuklären und Entscheidungen über Art und Setting der Behandlung gemeinsam zu treffen.

 Evidenzgrundlage Evidenzbasis

Die konsensbasierten Empfehlungen beruhen auf ethischen Aspekten und klinischen Erfahrungen, unterstützt durch Literatur aus der systematischen Recherche und der S2k-Leitlinie Notfallpsychiatrie 31821.

 Überlegungen Erwägungen, die die Empfehlung begründen

Die Notwendigkeit, mit suizidalen Menschen umzugehen, kann in den verschiedensten Szenarien im ambulanten Bereich bestehen. Beispielsweise haben Primärversorger mit etwa der Hälfte aller zukünftigen Suizidanten innerhalb von 30 Tagen und mit drei Vierteln im Jahr vor dem Suizid Kontakt: Das ist doppelt so viel wie bei psychiatrischen Fachkräften 31727. Im (teil-)stationären Setting kann der Umgang mit psychischen Krisen sich ebenfalls nicht nur für speziell dafür geschultes Personal ergeben, da Suizidalität z. B. auch in internistischen oder onkologischen Abteilungen auftreten kann.

Da der Aufbau einer therapeutischen Allianz eine bedeutsame Rolle im Umgang mit akuter Suizidalität spielt und suizidpräventiv wirkt 31712, ist es aus Sicht der Leitliniengruppe daher wichtig, dass die Grundprinzipien für ein erstes Gesprächs- und Beziehungsangebot bei akuter Suizidalität allen an der Versorgung beteiligten Professionen bekannt sind (Tabelle 40).

Tabelle 40: Wesentliche Merkmale des Gesprächs- und Beziehungsangebots an suizidale Patient*innen

Akzeptanz von Suizidalität als Ausdruck seelischer Not

  • empathisches Validieren der Situation von Betroffenen
  • Entdramatisierung, aber Vermeiden von Bagatellisierung
  • Vermittlung von Hoffnung, Hilfe und Chancen auf Veränderung (Zukunftsorientierung) sowie Förderung von Selbstwirksamkeitserleben

Offenheit und Klarheit im Umgang mit Suizidalität

  • offenes, direktes, ernstnehmendes Ansprechen von Suizidalität
  • Offenheit und Transparenz in Bezug auf alle Behandlungsaspekte (Ergebnisse der Risikoabschätzung, Gestaltung der Krisenintervention, Setting-Entscheidungen inkl. Szenarien für Zwangseinweisungen)

fürsorglicher Umgang mit einem schutzbedürftigen Menschen

  • Raum und Zeit zur Verfügung stellen
  • konkrete Vereinbarung über regelmäßigen zusätzlichen Kontakt (direkt oder telefonisch, mit Uhrzeit und Ort) und Klärung des Behandlungssettings (ambulant/stationär);
  • "Sichernde Fürsorge": Vermeiden von Alleinsein, Einbeziehung von Angehörigen oder Vertrauenspersonen; ggf. Zusammenarbeit mit den entsprechenden Krisendiensten für suizidale Menschen

Auch für suizidale Menschen gelten dabei die Grundsätze der gemeinsamen Entscheidungsfindung. Die Leitliniengruppe nimmt als Versorgungsproblem wahr, dass in der Praxis keine umfassende und transparente Aufklärung über alle Behandlungsaspekte erfolgt, beispielsweise über die sich aus der Risikoabschätzung ergebenden Konsequenzen, die verschiedenen Möglichkeiten und Settings von Interventionen wie auch mögliche Szenarien für eine Zwangseinweisung. Lediglich bei fehlender Absprachefähigkeit sind Entscheidungen auch gegen den Willen der Patient*innen möglich (siehe Empfehlung 12-6).

12.1.2 Spezifische Diagnostik von Suizidalität

Empfehlung

Empfehlungsgrad

12-3 | modifiziert 2022

Bei Vorliegen von Suizidalität sollen deren graduelle Ausprägung (Tabelle 41) erfasst, der aktuelle Handlungsdruck und die Distanzierung von suizidalem Verhalten (Tabelle 42) sowie die allgemeine Absprachefähigkeit eingeschätzt werden.

Starke Empfehlung

RationaleRationale

Grundlage für die Entscheidung über Behandlung und Behandlungssetting für suizidgefährdete Personen ist die Einschätzung der Gefährdungslage. Die Leitliniengruppe empfiehlt für die spezifische Diagnostik bei Vorliegen von Suizidalität konsensbasiert die Erfassung der graduellen Ausprägung, der Risiko- und protektiven Faktoren sowie der aktuellen Distanzierung von suizidalen Handlungen.

Für Empfehlungen zum niedrigschwelligen Screening auf Suizidalität im Rahmen der Erst- und Verlaufsdiagnostik siehe Kapitel 2.7 Erfassung von Suizidalität.

 Tabelle Tabelle 41: Graduelle Ausprägungen von Suizidalität

Tabelle 41: Graduelle Ausprägungen von Suizidalität (mod. nach 31821)

  • Stufe 1: Lebensüberdruss, Wunsch nach Ruhe oder Pause ("passiver Todeswunsch")
  • Stufe 2: aktive Suizidgedanken ohne konkrete Planungen
  • Stufe 3: konkrete Suizidpläne oder -vorbereitungen (z. B. Abschiedsbrief, Methodenerwerb, Probehandlungen)
  • Stufe 4: suizidale Handlungen
 Tabelle Tabelle 42: Risikofaktoren und protektive Faktoren bei Suizidalität

Tabelle 42: Risikofaktoren und protektive Faktoren bei Suizidalität

Risikofaktoren

Demographische Faktoren

  • männliches Geschlecht, höheres Alter (v. a. Männer > 70 Jahre)
  • niedriger sozioökonomischer Status

Suizidbezogene Faktoren

  • Suizidversuch(e) in der Anamnese
  • Suizidgedanken, Suizidpläne und Abschiedsvorbereitungen
  • Suizide in der Familiengeschichte oder kürzliche Suizide in der Umgebung der Patient*innen
  • Zugang zu Mitteln und Methoden

Psychosoziale Faktoren

  • Gefühl der Isolation und mangelnde soziale Unterstützung
  • Beziehungskonflikte/Streitigkeiten oder Verluste
  • Arbeitsplatzverlust/finanzielle Krisen
  • Hoffnungslosigkeit

Klinische Symptomatik

  • Substanzmissbrauch, Abhängigkeit
  • chronische Schmerzen
  • persistierende Schlafstörungen
  • Agitiertheit

Protektive Faktoren

  • soziale Unterstützung und Zugehörigkeit
  • Religiosität
  • Selbstwirksamkeit, Selbstwert
  • Gründe zu leben

Die genannten Faktoren stellen eine unvollständige Auswahl der in systematischen Übersichtsarbeiten identifizierten Korrelationen dar (vgl. z. B. 31708, 31709, 31716); die Auswahl erfolgte konsensbasiert gemäß der klinischen Beurteilung der Relevanz durch die Leitliniengruppe.

Die Erhebung dieser Faktoren dient lediglich als Entscheidungshilfe bei der klinischen Einschätzung; sie stellt keine Checkliste zur validen Diagnose des Suizidrisikos dar.

 Evidenzgrundlage Evidenzbasis

Die konsensbasierte Empfehlung basiert auf internationaler guter klinischer Praxis und unterstützender Literatur aus der systematischen Recherche.

 Überlegungen Erwägungen, die die Empfehlung begründen

Zu Suizidalität zählen alle Erlebens- und Verhaltensweisen von Menschen, die in Gedanken, durch aktives Handeln, passives Unterlassen oder durch Handeln-Lassen den Tod anstreben bzw. als mögliches Ergebnis einer Handlung in Kauf nehmen.

Je nachdem, welche Ausprägung von Suizidalität vorliegt, werden zunächst verschiedene Risikostufen unterschieden (Tabelle 41). Diese Stufen verlaufen jedoch nicht zwingend linear, so dass auch ein rascher Übergang von passiven Todeswünschen zu suizidalen Handlungen möglich ist.

Des Weiteren umfasst die spezifische Diagnostik von Suizidalität die Abschätzung des aktuellen Handlungsdrucks. Die Akuität wird dabei vor dem Hintergrund von Risiko- und protektiven Faktoren beurteilt. Die in Tabelle 42 aufgeführten Risiko- und protektiven Faktoren beruhen zwar auf einem in der systematischen Recherche identifizierten Review 31708, 31709, 31716. Die Leitliniengruppe betont jedoch, dass es sich dabei lediglich um statistische Korrelationen handelt und das Wissen um Risikofaktoren keine sichere Prädiktion von Suizidversuchen oder vollendetem Suizid bei einem bestimmten Patienten oder einer bestimmten Patientin ermöglicht. Die Erhebung dieser Faktoren dient somit lediglich als Entscheidungshilfe bei der klinischen Einschätzung; sie stellt keine Checkliste zur validen Diagnose des Suizidrisikos dar.

Zusätzlich wird eingeschätzt, inwieweit sich die Patient*innen glaubhaft von einer Suizidabsicht distanzieren und diesbezüglich absprachefähig erscheinen.

Die Erfassung von Suizidalität erfolgt unabhängig vom Alter; es gibt aus Sicht der Leitliniengruppe keinen Grund, bei älteren Menschen von einer permissiveren oder liberaleren Beurteilung auszugehen.

 Informationen Weiterführende Informationen: Instrumente zur Erfassung von Suizidalität

Für die Abklärung von Suizidalität eignen sich aus Sicht der Leitliniengruppe am besten einfache Fragen im persönlichen Gespräch, die die graduelle Ausprägung sowie Risiko- und protektive Faktoren explorieren. Zur strukturierten Erfassung des Schweregrads suizidaler Krisen und zur Dokumentation des Verlaufs bzw. der Veränderungen suizidalen Erlebens und Verhaltens von Suizidalität existieren auch verschiedene validierte, teils auch in deutscher Fassung vorliegende Instrumente (z. B. SITBI, C-SSRS, BSSI, SSEV, SBQ-R u. a., vgl. 31823). Aus Sicht der Leitliniengruppe ist die Anwendung dieser Fragebögen und Interviews zur Ergänzung der Risikoabschätzung jedoch eher im Rahmen klinischer Studien geeignet; eine persönliche Risikoabschätzung können sie nicht ersetzen.

12.1.3 Klärung des Behandlungssettings, Einweisungskriterien

Empfehlung

Empfehlungsgrad

12-4 | modifiziert 2022

Das konkrete Betreuungsangebot für suizidale Patient*innen soll sich nach der Absprachefähigkeit und den individuellen Risiko- und Umgebungsfaktoren richten.

Starke Empfehlung

12-5 | modifiziert 2022

Eine stationäre Einweisung soll für suizidale Patient*innen angeboten werden,

  • die akut suizidal sind,
  • die nach einem Suizidversuch medizinischer Versorgung bedürfen,
  • bei so schwerem Krankheitsbild der zugrundeliegenden depressiven Störung, dass die ambulanten Therapiemöglichkeiten nicht ausreichen,
  • wenn eine hinreichend zuverlässige Einschätzung des Weiterbestehens der Suizidalität anders nicht möglich ist, oder
  • wenn die Etablierung einer tragfähigen therapeutischen Beziehung nicht gelingt und die Person trotz initialer Behandlung akut suizidal bleibt.

Starke Empfehlung

RationaleRationale

Zur Entscheidung, suizidale Patient*innen ambulant behandeln zu können oder eine Klinikeinweisung (freiwillig oder nach dem jeweiligen Unterbringungsgesetz des betreffenden Bundeslandes bzw. nach dem Betreuungsgesetz) vornehmen zu müssen, gibt es bislang nur wenig empirische Daten. Die Leitliniengruppe empfiehlt daher konsensbasiert, die Indikation für eine ambulante oder stationäre Therapie auf Basis der genannten klinischen Faktoren und bestenfalls in gemeinsamer Entscheidungsfindung mit den suizidalen Patient*innen zu treffen.

 Evidenzgrundlage Evidenzbasis

Die konsensbasierte Empfehlung beruht auf klinischen und ethischen Erwägungen.

 Überlegungen Erwägungen, die die Empfehlung begründen

Erfahrungsgemäß kann ein Großteil der suizidalen Patient*innen ambulant behandelt werden, unter Voraussetzung der Anpassung der therapeutischen Vorgehensweise, beispielweise einer Erhöhung der Behandlungsfrequenz (2–3 Sitzungen pro Woche), zusätzlichen Telefonkontakten und/oder Einbezug von Bezugspersonen. Nur wenn sich aus der graduellen Ausprägung der Suizidalität, den individuellen Risiko- und protektiven Faktoren sowie der aktuellen Distanzierung von suizidalen Handlungen ein starker Handlungsdruck ergibt, ist eine stationäre Behandlung sinnvoll. Mit den Patient*innen ist dann zu klären, welche Art (teil-)stationärer Behandlung infrage kommt. Es gelten auch hier die Prinzipien der gemeinsamen Entscheidungsfindung; das heißt absprachefähige Patient*innen können dieses Angebot auch ablehnen. In diesen Fällen kommen alternativ die Vereinbarung konkreter und verbindlicher Maßnahmen bei Zunahme der Suizidgedanken infrage (siehe Kapitel 12.2.1 Notfallplan und Antisuizidpakt) 31821.

12.1.3.1 Einweisung gegen den Willen der Patient*innen

Empfehlung

Empfehlungsgrad

12-6 | neu 2022

Bei akuter Suizidgefährdung mit fehlender Bereitschaft zur stationären Aufnahme und fehlender Absprachefähigkeit bis zum nächsten vereinbarten Termin sollen die Patient*innen unter Berücksichtigung der individuell erforderlichen Sicherheitskautelen und unter Beachtung der gesetzlichen Regelungen notfallmäßig und ggf. gegen ihren Willen in stationäre psychiatrische Behandlung eingewiesen werden.

Starke Empfehlung

RationaleRationale

Fehlen sowohl die Bereitschaft zur stationären Aufnahme als auch die Absprachefähigkeit, ist eine Krankenhauseinweisung gegen den Willen der Patient*innen zur Abwendung einer akuten Selbst-oder Fremdgefährdung notwendig. Hintergrund ist, dass bei psychisch schwer kranken Patient*innen die freie Willensbildung krankheitsbedingt als (vorübergehend) beeinträchtigt gilt. Gemäß Unterbringungsgesetzen ist dies dann der Fall, wenn eine Person psychisch krank, geistig behindert oder suchtkrank ist und wenn im Rahmen der Krankheit die Gefahr besteht, dass sie sich selbst oder anderen Schaden zufügt und wenn diese Gefahr nicht auf andere Weise abzuwenden ist.

 Evidenzgrundlage Evidenzbasis

Die konsensbasierte Empfehlung beruht auf guter klinischer Praxis und rechtlichen Regelungen.

 Überlegungen Erwägungen zur Begleitung der Patient*innen in die Klinik

Bei akuter schwerer Suizidalität und fehlender Bereitschaft zur stationären Aufnahme ist in der Regel Eile geboten. Wenn die betroffene Person freiwillig in eine Klinik geht, ist es am wenigsten eingreifend für alle Beteiligten, wenn Angehörige oder Freunde sie dorthin bringen. Dies kann aber auch mit Gefahren verbunden sein. Zu empfehlen ist daher aus Erfahrung der Leitliniengruppe grundsätzlich eine professionelle Hilfe und Begleitung, die über Polizei, Feuerwehr oder Ordnungsamt der jeweiligen Gemeinde angefordert werden kann.

 Informationen Weiterführende rechtliche Informationen

Das Unterbringungsverfahren ist in den Unterbringungsgesetzen oder Psychisch-Kranken(hilfe)-Gesetzen der einzelnen Bundesländer bzw. im Betreuungsgesetz des Bundes geregelt. In der Regel muss ein Arzt bzw. eine Ärztin die Notwendigkeit der Behandlung gegen den Willen bestätigen. Die Polizei entscheidet unter Berücksichtigung des ärztlichen Zeugnisses, ob die Einweisung in eine zur Behandlung autorisierte Einrichtung erforderlich ist. Üblicherweise muss hierzu ein/eine auf dem Gebiet der Psychiatrie erfahrene*r Arzt/Ärztin ein ärztliches Gutachten anfertigen. Nach einer Frist von 24 bis 36 Stunden – dies ist in den einzelnen Bundesländern verschieden – müssen die Patient*innen richterlich angehört werden. Die Richter*innen treffen aufgrund der persönlichen Anhörung und aufgrund des ärztlichen Gutachtens eine Entscheidung über die Unterbringung. Falls die Richter*innen die Auffassung vertreten, dass eine Unterbringung nicht erforderlich ist, sind die Patient*innen zu entlassen.

12.2 Krisenintervention und Psychotherapie

 Definition Definition

Die Definition von Krisenintervention ist unscharf. Im weiteren Sinne werden unter Krisenintervention alle Maßnahmen in der ambulanten oder stationären Betreuung und Beratung von Menschen verstanden, die akut psychisch gefährdet sind, also auch niedrigschwellige Gespräche auf der Basis psychotherapeutischer Konzepte im Rahmen einer Erstversorgung z. B. durch Hausärzt*innen (vgl. Kapitel 12.1 Vorgehen bei Suizidalität). Im engeren Sinne und in diesem Kapitel meint Krisenintervention eine rasch beginnende, kurz dauernde, intensive psychotherapeutische Akutintervention, bei der durch Kriseninterventionsberater*innen oder Psychotherapeut*innen zielgerichtet der aktuelle Konflikt besprochen wird. Somit sind Kurzinterventionen als Krisenintervention einerseits und Psychotherapie andererseits nicht sinnvoll zu trennen. Krisenintervention versteht sich zudem als multimodaler Ansatz. Daher ist immer auch zu prüfen, ob eine medikamentöse Therapie indiziert ist (siehe Kapitel 12.3 Medikamentöse Therapie) und ob andere Berufsgruppen hinzugezogen werden sollten.

International sind die Angebote und Konzepte von Krisenintervention äußerst heterogen und innerhalb Deutschlands auch regional verschieden.

Empfehlung/Statement

Empfehlungsgrad

12-7 | neu 2022

Bei akuter Suizidalität soll den Patient*innen eine Krisenintervention oder Psychotherapie angeboten werden.

Starke Empfehlung

12-8 | modifiziert 2022

Suizidgefährdeten Patient*innen mit einer depressiven Episode sollte eine Psychotherapie angeboten werden, die zunächst auf die Suizidalität fokussiert.

Abgeschwächte Empfehlung

12-9 | neu 2022

Die Leitliniengruppe empfiehlt, die notwendigen Versorgungsstrukturen zu schaffen, um Angebote der ambulanten Krisenintervention flächendeckend zu implementieren.

Statement

RationaleRationale

Ziel einer schnell einsetzenden und kurzfristigen Intervention bei akuter Suizidalität ist es, die Patient*innen bis zum Abklingen der akuten Krise aktiv und unmittelbar zu unterstützen und entlasten. Die Aussagekraft der Evidenz zu psychotherapeutischen (Krisen-)Interventionen ist niedrig bis sehr niedrig, da die PICO-Heterogenität der Studien sehr hoch, die Präzision aufgrund der Seltenheit des Ereignisses gering und das Verzerrungsrisiko wegen mangelnder Verblindung hoch ist. Hinzu kommt eine mangende Direktheit bezüglich Patient*innen, die infolge depressiver Störungen suizidal werden, da die Studien die Teilnehmenden unabhängig von den der Suizidalität zugrundeliegenden Ursachen einschließen. Aufgrund des hohen Handlungsdrucks spricht die Leitliniengruppe dennnoch eine starke Empfehlung aus.

Die breiteste Evidenzbasis existiert für kognitive Verhaltenstherapie, aber auch für andere Verfahren liegen Hinweise auf positive Effekte vor. Direkte auf die Suizidalität fokussierende Interventionen haben größere Effekte als auf die depressive Störung ausgerichtete Psychotherapien. Die Leitliniengruppe hält zudem eine größere Verfügbarkeit ambulanter Krisendienste für wünschenswert, um die Patient*innen schneller und ortsnah versorgen zu können.

Bei akuter Suizidalität kann auch eine medikamentöse Therapie indiziert sein (siehe Kapitel 12.3 Medikamentöse Therapie).

 Evidenzgrundlage Evidenzbasis

Es erfolgte eine systematische Recherche nach Interventionen bei Suizidalität.

 Evidenzbeschreibung Evidenzbeschreibung

In einem qualitativ hochwertigen Cochrane-Review zu psychosozialen Interventionen bei selbstverletzendem Verhalten konnte durch eine individuelle kognitive Verhaltenstherapie das Risiko für wiederholte Selbstverletzung inkl. Suizidalität im Vergleich zur Standardbehandlung direkt nach der Intervention (17/123 vs. 23/115 OR 0,35 (95% KI 0,12; 1,02); I2 = 0%; N = 4, n = 238; niedrige Evidenzqualität), nach 6 Monaten (126/624 vs. 188/636 OR 0,52 (95% KI 0,38 , 0,70]); I2 = 2%; N = 12, n = 1 260) sowie nach 12 Monaten (246/1 205 vs, 292/1 253 OR 0,81 (95% KI 0,66; 0,99) I2 = 0%; N = 9, n = 1 458) reduziert werden, wobei erst im Follow-up statistische Signifikanz erreicht wurde. Bei der Reduktion von Suidzidgedanken zeigten sich moderate Effekte (post intervention: SMD -0,48 (95% KI -0,68, -0,28), I2 = 20%; N = 5, n = 718; nach 6 Monaten: SMD -0,38 (95% KI -0,60, -0,17), I2 = 0%; N = 4, n = 353); der Endpunkt vollendete Suizide war aufgrund der geringen Eventzahl nicht statistisch signifikant (10/1 049 vs. 14/1 081; 0,79 (95% KI 0,34, 1,80), I2 = 0%; N = 16, n = 2 130) 31730.

Eine qualitativ gute Übersichtsarbeit untersuchte die Effektivität psychodynamischer Verfahren bei Suizidalität. Nach 12 Monaten hatten im Vergleich zu verschiedenen Kontrollgruppen nur etwa halb so viele Patient*innen einen Suizidversuch unternommen (OR 0,469 (95% KI 0,27, 0,80), I2 = 0%; N = 3, n = 276), wobei die konkrete Anzahl der Suizidversuche nicht berichtet wurde. Die Evidenzqualität wird von den Autor*innen trotz der schmalen Datenbasis, der hohen Heterogenität aller PICO-Parameter und dem inhärentes Verzerrungsrisiko (keine Verblindung) als moderat eingeschätzt 31717.

Für achtsamkeitsbasierte Interventionen fanden sich ebenfalls positive Effekte auf wiederholte Selbstverletzung (OR 0,35 (95% KI 0,17; 0,73); N = 1, n = 134, hohe Evidenzqualität) 31730, wobei die Evidenzbasis auch in einem Review speziell zu diesen Verfahren sehr schmal blieb 31724.

Auch für dialektisch-behaviorale Therapien finden sich Vorteile, jedoch wurden in die Studien keine Patient*innen mit der Suizidalität zugrundeliegender unipolarer Depression eingeschlossen 31730.

Für die Akzeptanz- und Commitmenttherapie (ACT) fand sich lediglich inkonklusive Evidenz; es existieren bislang keine randomisiert-kontrollierten Vergleiche für das Verfahren als individuelle Psychotherapie; im einzigen RCT zu diesem Therapieverfahren wurde ACT als mobilbasierte Intervention angeboten 31714.

Drei Reviews untersuchten die Effektivität verschiedener Kurzinterventionen bei Suizidalität. Eine qualitativ gute Übersichtsarbeit fand für das WHO-BIC (brief intervention and contact), das aus psychoedukativen Maßnahmen und telefonischer Nachsorge besteht, eine signifikante Reduktion von Suiziden (3/1 041 vs. 24/924; OR 0,20 (95% KI 0,09, 0,42); I2 = 0%; N = 3, n = 2 028) 31111. Zwei weitere methodisch akzeptable Übersichtsarbeiten zu WHO-BIC, ASSIP (attempted suicide short intervention program) und anderen Interventionen fanden tendenziell positive Effekte der Kurzinterventionen, wobei die Evidenzqualität sehr niedrig und damit die Aussagekraft stark limitiert ist 31713, 31854.

Eine weitere systematische Übersichtsarbeit untersuchte die Bedeutung der therapeutischen Allianz bei Suizidalität. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass eine gute Beziehung zwischen Betroffenen und Helfern, in der sich die betroffene Person mit ihrer Suizidalität und den damit verbundenen Begleitumständen ernst genommen und verstanden fühlt, bereits per se suizidpräventiv sein kann 31712.

Zur Frage einer direkten psychotherapeutischen Adressierung der Suizidalität durch problemlösende und einsichtsorientierte Strategien im Vergleich zu einer auf die Grunderkrankung ausgerichteten Psychotherapie fanden sich in einer methodisch akzeptablen Übersichtsarbeit stärkere Effekte auf Suizide und Suizidversuche für die direkten Interventionen (post-treatment OR 0,62 (95% KI 0,45; 0,87); I2 = 22,9%; N = 11; longer-term follow-up OR 0,65 (95% KI 0,46; 0,91); I2 = 27,6%; N = 10) als für die indirekten Interventionen (post-treatment OR 0,93 (95% KI 0,77; 1,12); I2 = 5,3%; N = 20; longer-term follow-up OR 0,82 (95% KI 0,70; 0,96); I2 = 0%; N = 19). Im direkten Vergleich waren die Unterschiede aufgrund mangelnder statistischer Power nicht statistisch signifikant (post treatment difference: OR 0,62 vs. 0,93; p = 0,06; Cohen’s d = 0,77; longer-term follow-up difference: OR 0,65 vs. 0,82, p = 0,2; Cohen’s d = 0,47), wobei die Konfidenzintervalle und die Unterschiede der Effektstärken weiterhin für eine Überlegenheit der direkten Interventionen sprechen 31818

Limitationen

Gemeinsam ist allen Studien zu Interventionen bei Suizidalität, dass eine Zuordnung von akut suizidgefährdeten Menschen zu Kontrollgruppen, die ihnen Krisenintervention bzw. Psychotherapie vorenthalten würde, ethisch nicht möglich ist. Hinzu kommt, dass eine statistische Signifikanz bezüglich Suizidversuchen und Suiziden bei nur kurzem Follow-up schwer zu erreichen ist; dies betrifft insbesondere Kurzinterventionen oder kurze suizidfokussierte Psychotherapien. In der Literatur wird zudem nicht immer zwischen suizidalem und nicht-suizidalem selbstverletzendem Verhalten unterschieden bzw. es werden die Einzelendpunkte von Suizidalität (Suizidgedanken, Suizidversuche, Suizide) nicht getrennt berichtet. Ein drittes Problem betrifft die Einschlusskriterien: Teils werden nur Patient*innen mit suizidalem bzw. selbstverletzendem Verhalten in die Arbeiten eingeschlossen, teils stellt Suizidalität jedoch kein Einschlusskriterium, sondern lediglich einen Endpunkt dar. Eine differenzierte Darstellung der Ergebnisse nach Patientencharakteristika erfolgt nur selten. Somit ist die Heterogenität der vorliegenden Studien auf allen PICO-Ebenen sehr hoch und die Aussagekraft der Evidenz speziell für suizidale Patient*innen mit depressiven Störungen limitiert.

 Überlegungen Versorgungspraktische Erwägungen, die die Empfehlung begründen

Krisenintervention kann prinzipiell auch ambulant erfolgen; dabei dienen die haus- und spezialfachärztlichen Praxen sowie der Kassenärztliche Notdienst als erste Anlaufstellen. Mangels kurzfristig verfügbarer Termine und eingeschränkter Öffnungszeiten ist dies in der Praxis jedoch vielfach nicht umsetzbar. Anders als international existieren in Deutschland ambulante Krisendienste nicht flächendeckend, so dass bei Nicht-Verfügbarkeit ambulanter Angebote primär die Behandlung in der Ambulanz einer Klinik oder aber die stationäre Aufnahme bleibt. Die Leitliniengruppe spricht sich dafür aus, ambulante Krisendienste auch in Deutschland auszubauen, ggf. auch als integrales Element komplexer Versorgungsformen (siehe Kapitel 14.4 Strukturierte und komplexe Versorgungsformen).

12.2.1 Notfallplan und Antisuizidpakt

Empfehlung

Empfehlungsgrad

12-10 | neu 2022

Bei akuter Suizidgefahr soll gemeinsam mit den Patient*innen ein Notfallplan erstellt werden.

Starke Empfehlung

RationaleRationale

Auch wenn die Evidenzqualität aufgrund methodischer Limitationen eher niedrig ist, spricht sie dafür, dass mithilfe eines Plans mit klaren Verhaltenshinweisen und Kontaktinformationen für den Notfall akut suizidales Verhalten reduziert werden kann. Da trotz der Seltenheit der Events in der Metaanalyse ein statistisch signifikanter Effekt erreicht wird, spricht die Leitliniengruppe eine starke Empfehlung aus.

 Evidenzgrundlage Evidenzbasis

Es erfolgte eine systematische Recherche nach Interventionen bei Suizidalität.

 Evidenzbeschreibung Evidenzbeschreibung

In einer methodisch zufriedenstellenden Übersichtsarbeit ergaben sich durch die Erarbeitung eines Notfallplans ("safety planning interventions") signifikante positive Effekte auf suizidales Verhalten (150/2 096 vs. 198/1 440; Spanne: 0–18,3% vs. 5,3–26,7%; RR 0,57 (95% KI 0,41, 0,80); I2 = 32,51%; N = 6, n = 3 536), aber keine Effekte auf Suizidgedanken (g = 0,69 (95% KI -0,04; 1,42); I2 = 87,60%; N = 3, n = 283) 31820. Ein Review geringerer methodischer Qualität fand hingegen auch für Suizidgedanken positive Effekte 31819. Die Aussagekraft der Evidenz ist niedrig bis sehr niedrig, da die PICO-Heterogenität der Studien und das Verzerrungsrisiko wegen mangelnder Verblindung hoch sind und die Studien auch Patient*innen ohne depressive Störungen einschlossen (Indirektheit).

 Informationen Weiterführende Informationen: Elemente von Notfallplänen, Überlegungen zum Antisuizidpakt

Ein wesentliches Merkmal von Notfallplänen für suizidale Patient*innen ist die gemeinsame Erarbeitung. Mögliche Komponenten sind:

  • eine Liste individueller Warnzeichen für eine akute Selbstgefährdung;
  • eine Aufzählung möglicher Bewältigungsstrategien;
  • die Aufforderung, nicht allein zu bleiben, sondern soziale Unterstützung zur Ablenkung zu nutzen;
  • Kontaktdaten von Familienmitgliedern oder Freund*innen;
  • Kontaktdaten von psychosozialen Diensten, Notrufnummern;
  • eine Vereinbarung zum Verzicht auf den Zugang zu potenziell tödlichen Mitteln (z. B. Bevorratung von Medikamenten; Zugang zu Schusswaffen) 31822, 31855.

Sowohl im ambulanten wie im stationären Bereich wird bei Vorliegen von Suizidalität häufig auch ein "Antisuizid-Vertrag" zwischen Psychotherapeut*innen und Patient*innen geschlossen: Die Patient*innen versprechen, bis zu einem genau festgelegten Zeitpunkt (z. B. bis zur nächsten Sitzung oder bis zu einem konkreten Tag und Uhrzeit) keinen Suizidversuch zu unternehmen und vor einem Suizidversuch auf jeden Fall Kontakt zur Psychotherapeutin oder zum Psychotherapeuten aufzunehmen. Aggregierte Evidenz speziell für Antisuizidverträge wurde nicht identifiziert; sie waren teils aber Bestandteil der Notfallplanung. Aus der klinischen Erfahrung der Leitliniengruppe kann ein Antisuizidpakt ein sehr wirkungsvolles Instrument für kurzfristige Absprachen mit den Patient*innen sein, eine grundsätzlich vorhandene Bündnis- und Beziehungsfähigkeit und das Vorhandensein eines Notfallplans vorausgesetzt. Dabei erscheint die interpersonelle Verbindlichkeit wichtiger als eine Unterschrift auf einem vorgefertigten Formular, das vor allem der Vermeidung juristischer Konsequenzen dient. In der Praxis wird ein Antisuizidpakt jedoch zu oft mechanistisch gehandhabt und eine Garantie zur Unterlassung suizidaler Handlungen besteht nicht. Daher spricht die Leitliniengruppe bewusst keine Empfehung aus, einen Antisuizidvertrag abzuschließen.

12.2.2 Internet- und mobilbasierte Interventionen

Die Leitliniengruppe verzichtet auf eine Empfehlung, da spezifisch gegen Suizidalität gerichtete internet- und mobilbasierte Interventionen in Deutschland noch nicht verfügbar sind. Hingegen wird bei fast allen zur Verfügung stehenden mobilen und App-basierten Formaten Suizidalität als Ausschlusskriterium genannt. Die in Deutschland erhältlichen Programme bei Depressionen haben keinen spezifischen Effekt auf Suizidalität (vgl. Kapitel 5.1.2 Internet- und mobilbasierte Interventionen).

 Evidenzgrundlage Evidenzbasis

Es erfolgte eine systematische Recherche nach Interventionen bei Suizidalität.

 Evidenzbeschreibung Evidenzbeschreibung

In einer methodisch akzeptablen Übersichtsarbeit hatten direkt auf Suizidalität fokussierende internet- und mobilbasierte Interventionen kleine Effekte auf Suizidgedanken (g -0∙23 (95% KI -0,35; -0∙11); I² = 17,6%; N = 10), indirekt gegen Depressionen gerichtete Interventionen hingegen nicht (g -0∙12 (95% KI -0,25; 0,01); I² = 0%; N = 6). Suizidalität war in den Studien jedoch nicht Einschlusskriterium, sondern nur Endpunkt und die Populationen waren sehr heterogen 31726. Ein weiterer Review mit methodischen Limitationen fokussierte auf Smartphone-Apps, berichtete aber keine Vergleiche zwischen Interventions- und Kontrollgruppen 31725. Insgesamt liegt zu wenig und qualitativ nicht ausreichende Evidenz für belastbare Aussagen vor.

Smartphone-Apps und Wearables

Zu den neueren Entwicklungen im Bereich der mobilbasierten Interventionen zählen Smartphone-Apps und Wearables, die das Verhalten der Patient*innen passiv überwachen und damit Hinweise auf sich anbahnende suizidale Krisen liefern könnten. Zielparameter sind z. B. die Menge und Dauer eingehender und ausgehender Anrufe, die Anzahl der täglichen Textnachrichten, die Anzahl installierter Apps, der Zeitpunkt und die Dauer der Smartphone-Nutzung, die körperliche Aktivität (GPS- und Bewegungssensoren, Schrittzähler, Beschleunigungsmesser) sowie der Schlaf-Wach-Rhythmus (Aktigraphie; Messung Helligkeit und Umgebungstemperatur). Über Wearables können weitere Parameter wie Herzfrequenz, Herzfrequenzvariabilität, Hauttemperatur oder elektrodermale Aktivität erfasst werden.

In der systematischen Recherche wurden zwar Übersichtsarbeiten zu Apps und Wearables identifiziert, jedoch ausgeschlossen, da es sich bisher lediglich um Korrelationsstudien (Korrelation einzelner Parameter zu Depressivität/Suizidalität) oder Validierungsstudien (durch Apps ermittelte Depressionsscores im Vergleich zu validierten Symptomskalen) handelt. Studien zur Therapiesteuerung mit Auswertung der Effekte auf patientenrelevante Endpunkte wie Depression oder Suizidalität stehen noch aus.

12.3 Medikamentöse Therapie

Krisenintervention versteht sich als multimodaler Ansatz. Nach und begleitend zur psychotherapeutischen Krisenintervention können bei suizidalen Patient*innen auch medikamentöse Therapien eingesetzt werden. Diese zielen teils direkt auf die Suizidalität, teils auf einzelne Symptome sowie auf die Behandlung der zugrundliegenden depressiven Störung.

12.3.1 Antidepressiva

Empfehlung

Empfehlungsgrad

12-11 | modifiziert 2022

Antidepressiva können bei suizidalen depressiven Patient*innen zur Depressionsbehandlung im Rahmen der allgemeinen Empfehlungen zur medikamentösen Behandlung eingesetzt werden.

Offene Empfehlung

12-12 | modifiziert 2022

Bei suizidalen Patient*innen soll die Auswahl von Antidepressiva hinsichtlich ihres Nutzen-Risiko-Verhältnisses (Pharmaka mit Letalität in hoher Dosis, Agitationssteigerung in der Frühphase) abgewogen werden.

Starke Empfehlung

12-13 | bestätigt 2022

Zur speziellen akuten Behandlung der Suizidalität sollen Antidepressiva nicht eingesetzt werden.

Starke Negativ-Empfehlung

RationaleRationale

In randomisiert-kontrollierten Vergleichen ergaben sich inkonklusive Hinweise auf mögliche negative Effekte von Antidepressiva speziell auf den Endpunkt Suizidalität bei niedriger Evidenzqualität. Suizidalität stellt aus Sicht der Leitliniengruppe daher grundsätzlich keine Kontraindikation für die Behandlung mit Antidepressiva dar, weder für die Fortführung einer bereits bestehenden medikamentösen Therapie, noch für den Neubeginn mit dem Ziel der Behandlung der Grunderkrankung. Beim Neubeginn einer Behandlung mit Antidepressiva sind jedoch mögliche suizidprovozierende Effekte durch Agitationssteigerung zu beachten; zudem empfiehlt die Leitliniengruppe konsensbasiert, bei suizidalen Patient*innen keine Medikamente mit potenziell letaler Wirkung bei Überdosierung zu wählen. Andererseits belegt die Evidenz aber auch keine direkte Wirkung gegen akute Suizidalität (sehr niedrige Evidenzqualität), so dass Antidepressiva aus Sicht der Leitliniengruppe keine adäquate alleinige Behandlungsoption bei suizidalen Patient*innen darstellen.

 Evidenzgrundlage Evidenzbasis

Die Empfehlung beruht auf in der 2. Auflage zitierter Literatur, auf den Ergebnissen einer systematischen Recherche sowie klinischen und pharmakologischen Erwägungen.

 Evidenzbeschreibung Evidenzbeschreibung

In der Literatur wird der Einfluss von Antidepressiva auf Suizidalität nach wie vor kontrovers diskutiert; ausgehend von der gleichen Datenbasis werden sowohl protektive als auch verstärkende Wirkungen geschlussfolgert. Dabei ist die Interpretation der Daten aufgrund der geringen Ereignisraten stark von den jeweiligen methodischen Analysemethoden abhängig. Auf eine ausführliche Darstellung der Kontroverse wird aus Gründen der Lesbarkeit hier verzichtet (siehe Evidenztabellen im Leitlinienreport 32140). Zusammenfassend ergab sich aus der systematischen Recherche, dass sich die Ergebnisse bezüglich suizidprovozierender bzw. -reduzierender Effekte von Antidepressiva je nach Studientyp unterscheiden (RCT vs. Beobachtungsstudien und Versorgungsdaten), was vermutlich auf Verzerrungseffekte zurückzuführen ist. Zudem unterscheiden sich die Ergebnisse je nachdem, ob der Endpunkt Suizidalität als erfolgte Suizid(versuch)e definiert wurde (keine positiven Effekte, ggf. negative Effekte) oder auch Suizidgedanken oder -pläne umfasste (positive Effekte von Antidepressiva). Die Ergebnisse erwiesen sich zudem als abhängig vom Alter (erhöhtes Risiko von Suizidversuchen bei < 25-Jährigen, jedoch nicht bei > 25-Jährigen), von den Wirkstoffklassen (Überdosierungsgefahr von MAO-Hemmern und TZA) sowie vom Messzeitpunkt (Therapiebeginn vs. längerfristige Behandlung). Die Aussagesicherheit ist jedoch aufgrund der geringen Ereignisraten (Impräzision), der unterschiedlichen Definitionen von Suizidalität, der heterogenen Ergebnisse (Inkonsistenz) und möglicher Studiendesign-bedingter Verzerrungseffekte niedrig.

 Überlegungen Weitere Erwägungen, die die Empfehlung begründen

Zu Beginn einer Antidepressiva-Behandlung kann aus der Aktivierung der Patient*innen sowie aus Nebenwirkungen wie innerer und motorischer Unruhe, Schlafstörungen oder Angst ein erhöhtes Suizidrisiko resultieren, insbesondere bei SSRI und SNRI. Wenn diese Antidepressiva eingesetzt werden sollen, ist in den ersten Behandlungswochen daher ein engmaschiges und aktives Monitoring von Suizidalität notwendig. Bei TZA und MAO-Hemmern besteht die Gefahr einer letalen Überdosierung, so dass diese Wirkstoffe im ambulanten Bereich bei suizidalen Patient*innen eher vermieden werden oder nur in kleinen Packungen verschrieben werden sollten (siehe auch Kapitel 4.4.3 Auswahl des Antidepressivums).

12.3.2 Lithium

Empfehlung

Empfehlungsgrad

12-14 | modifiziert 2022

Wenn die Indikation für eine Rezidivprophylaxe besteht, sollte bei suizidgefährdeten Patient*innen zur Reduzierung suizidaler Handlungen (Suizidversuche und Suizide) eine Medikation mit Lithium angeboten werden.

Abgeschwächte Empfehlung

RationaleRationale

Zur Effektivität bezüglich des Endpunkts Suizidalität existieren für Lithium nur wenige Primärstudien; die Konfidenzintervalle sind sehr breit und die Studien schlossen weniger Patient*innen mit unipolaren Depressionen, sondern vorwiegend mit bipolaren, schizoaffektiven oder Borderline-Störungen ein, so dass die Evidenzqualität sehr niedrig ist. Da die Metaanalysen von sehr wenigen Ereignissen getriggert sind, werden die Ergebnisse von den jeweiligen Autor*innen wie auch von der Leitliniengruppe der NVL heterogen interpretiert. Nach Abwägung der klinisch bedeutsamen, aber methodisch nicht zuverlässigen Effekte auf den Endpunkt Suizidalität einerseits und Sicherheitsbedenken andererseits entschloss sich die Leitliniengruppe zu einer abgeschwächten Empfehlung. Die Einschränkung auf die Rezidivprophylaxe erfolgt, weil Lithium nur in dieser Indikation zugelassen ist. Zur Dauer der Einnahme von Lithium bei Suizidalität ist keine Evidenz bekannt.

 Evidenzgrundlage Evidenzbasis

Die Empfehlung beruht auf dem Update von Reviews, die in der systematischen Recherche zur 2. Auflage identifiziert wurde, sowie auf Übersichtsarbeiten, die in der themenübergreifenden sowie der systematischen Recherche zum Thema Suizidalität identifiziert wurden.

 Evidenzbeschreibung Evidenzbeschreibung

In der qualitativ hochwertigen Metaanalyse von NICE fand sich kein signifikanter Effekt von Lithium auf die Rückfallrate (RR 0,92 (95% KI 0,71; 1,19); N = 1; n = 71; niedrige Evidenzqualität), auch nicht als Augmentations-Strategie (RR 0,67 (95% KI 0,34; 1,31); N = 3, n = 164, sehr niedrige Evidenzqualität) 29705. Im Update der in der 2. Auflage zitierten 4521 und 10569 ergaben sich signifikante Effekte gegenüber Placebo (Peto OR 0,13 (95% KI 0,02; 0,76); I2 = 0%; N = 3, n = 280), nicht aber gegenüber Amitriyptylin (OR 0,13 (95% KI 0,01; 2,05); N = 2, n = 188) 31101. In einer in der systematischen Recherche identifizierten qualitativ guten Übersichtsarbeit ergaben sich knapp keine signifikanten Effekte auf die Suizidrate (OR 0,23 (95% KI 0,05; 1,02); N = 6); dieses Ergebnis war vor allem getriggert durch eine Studie bei Patient*innen mit rezidivierender Depression und Selbstverletzung in der Anamnese 31111. Eine weitere Metaanalyse aus der systematischen Recherche schloss 4 RCT ein, von denen es aber nur in einer zu Suiziden gekommen war. Bezüglich der Gesamtmortalität, die die Autor*innen wegen der möglichen Toxizität von Lithium als primären Endpunkt gewählt hatten, war Lithium signifikant überlegen gegenüber Placebo (2/226 vs. 9/226; OR 0,28 (95% KI 0,08; 0,93); I2 = 0%; N = 4) 31112. Ein Cochrane-Review zur medikamentösen Prophylaxe bei Menschen mit bekannter Selbstverletzung in den letzten 6 Monaten fand keinen Effekt von Lithium auf Suizidversuche, schloss aber nur ein RCT ein 31707. Zusammenfassend waren die Ergebnisse somit aufgrund der unterschiedlichen in die Analysen eingeschlossenen Primärstudien sowie wegen der geringen Eventrate inkonklusiv.

 Überlegungen Erwägungen, die die Empfehlung begründen

Lithium hat ein hohes Wechsel- und Nebenwirkungspotenzial und es besteht die Gefahr von Intoxikationen 31114. Andererseits ist die Dosierung gut über die Plasmaspiegel steuerbar (siehe Tabelle 30 und Anhang 3). Bei Beendigung der Behandlung besteht die Gefahr von Rebound-Effekten bis hin zu Suizidalität. Die Mehrheit der Leitliniengruppe hat jedoch die Erfahrung gemacht, dass dies im praktischen Alltag eher nicht vorkommt und nur bei versehentlichem abrupten Absetzen relevant wird. Auch Intoxikationen mit dem Ziel des Suizids sind zwar theoretisch möglich, kommen in der Klinik aber praktisch nicht vor, was vermutlich auf den antisuizidalen Effekt von Lithium zurückzuführen ist. Nach längerer Einnahme ist das Ausschleichen über einen längeren Zeitraum empfehlenswert (siehe Empfehlungen im Kapitel 4.4.8 Absetzen von Antidepressiva).

Hindernisse bestehen in einer unterschiedlichen Aufgeschlossenheit der Verordnenden gegenüber Lithium.

12.3.3 Benzodiazepine

Empfehlung

Empfehlungsgrad

12-15 | modifiziert 2022

Benzodiazepine sollen bei akuter Suizidalität und stark belastenden Schlafstörungen oder starker Unruhe unter der Voraussetzung einer engmaschigen Überwachung sowie unter Beachtung der Kontraindikationen für eine Dauer von zwei (maximal vier) Wochen angeboten werden.

Starke Empfehlung

RationaleRationale

Benzodiazepine sind effektive Medikamente bei Schlafstörungen und Unruhe, jedoch mit raschem Eintritt einer Gewöhnung. Die vorliegende Evidenz belegt keinen dauerhaften Effekt auf depressive Symptome. Da die akute Suizidalität sinkt, wenn Agitation und Schlafstörungen gemildert werden, stellen Benzodiazepine aus klinischer Sicht eine wichtige Notfallmedikation dar. Wegen des Risikos von Nebenwirkungen und der Entwicklung einer Abhängigkeit empfiehlt die Leitliniengruppe nur einen zeitlich befristeten Einsatz.

Evidenzbasis, Evidenzbeschreibung, klinische Erwägungen und weiterführende Information siehe Kapitel 5.3.1.2 Benzodiazepine.

12.3.4 Antipsychotika

Der Einsatz von Antipsychotika erfolgt unabhängig vom Vorliegen von Suizidalität. Empfehlungen zur Indikation von Antipsychotika bei Patient*innen mit unipolaren Depressionen sowie Evidenzbeschreibungen siehe Kapitel 5.4 Psychotische Depression sowie Kapitel 7.1.3 Augmentation mit Antipsychotika, Lithium oder anderen Substanzen.

12.3.5 Esketamin intranasal

Empfehlung

Empfehlungsgrad

12-16 | neu 2022

Im Notfall, insbesondere bei akuter Suizidalität, kann im (teil-)stationären Setting zusätzlich zu einem Antidepressivum Esketamin in intranasaler Applikation angeboten werden.

Offene Empfehlung

RationaleRationale

Esketamin erreichte in Studien keine signifikanten Wirkungen auf den Endpunkt Suizidgedanken; die Effektivität bezüglich Suizidversuchen und Suiziden kann aufgrund der kurzen Nachbeobachtungszeit nicht beurteilt werden. Die Evidenzqualität ist niedrig bis moderat, da zwar rein quantitativ ausreichend Daten zur Verfügung stehen, aber mit funktioneller Entblindung zu rechnen ist, die Effekte auf akute Suizidalität nicht konsistent sind und alle relevanten Studien direkt vom Hersteller gesponsert waren.

Esketamin ergänzt aus Sicht der Leitliniengruppe erstmals seit Jahren die Möglichkeiten der medikamentösen Therapie um einen neuen Ansatz, dessen Stärke vor allem der schnelle Wirkungseintritt ist. Sie spricht eine offene Empfehlung aus, da die Evidenz nicht konsistent signifikante Effekte gegenüber Placebo zeigt.

Da Esketamin nur in Kombination mit Antidepressiva zugelassen ist und auch keine Evidenz für eine Monotherapie existiert, spricht die Leitliniengruppe die Empfehlung nur für die Kombinationsbehandlung aus.

Zur Anwendung von Esketamin bei Therapieresistenz siehe Kapitel 7.3.2 Esketamin intranasal.

 Evidenzgrundlage Evidenzbasis

Die Empfehlung beruht auf einer systematischen Recherche nach aggregierter Evidenz und Primärstudien. Da eine große Zahl von RCT nach den Suchzeiträumen der identifizierten systematischen Reviews publiziert worden war, wurde die Evidenzsynthese auf RCT-Basis vorgenommen. Eine zu einem späteren Zeitpunkt durchgeführte systematische Recherche nach aggregierter Evidenz zum Thema Suizidalität vergrößerte die Evidenzbasis nicht relevant, so dass die dort identifizierten Reviews zu Esketamin nicht zusätzlich ausgewertet wurden 31824. Das gleiche gilt für einen kurz nach dieser Recherche veröffentlichten Cochrane-Review 31750.

 Evidenzbeschreibung Evidenzbeschreibung

Es wurden 2 RCT identifiziert, die Patient*innen mit einer mittelgradigen bis schweren depressiven Episode und erhöhtem Suizidrisiko einschlossen: Die Studien ASPIRE-1 (n = 226) und ASPIRE-2 (n = 230) untersuchten Esketamin intranasal 84 mg zweimal wöchentlich im Vergleich zu Placebo bei stationären Patient*innen mit gegenwärtigen Suizidgedanken. Der primäre Endpunkt Reduktion der depressiven Symptome, gemessen anhand der Veränderung des MADRS-Gesamtscores, war nach 1 Tag signifikant verbessert (Differenz -3,8 bzw. -3,7); Suizidgedanken (CGI-SS) jedoch nicht signifikant 30631, 30636. Auffällig ist ein großer Placebo-Effekt in den Studien, der nach Ansicht der Autor*innen vor allem auf die starke Erwartungshaltung im Zusammenhang mit der intranasalen Applikationsform sowie auf die engmaschige Betreuung zurückzuführen ist.

Die methodische Qualität der Studien war zwar insgesamt hoch (siehe Evidenztabellen im Leitlinienreport 32140), es bestand jedoch die Gefahr der Aufhebung der Verblindung aufgrund des Auftretens oder Ausbleibens typischer (Neben-)Wirkungen von Esketamin und eine daraus folgende Verzerrung der Effekte.

Der G-BA wertete die Studienergebnisse als Anhaltspunkt für einen geringen Zusatznutzen für die Anwendung von Esketamin intranasal im psychiatrischen Notfall 31827.

 Überlegungen Klinische und versorgungspraktische Erwägungen, die die Empfehlung begründen

Wenn bei akuter Suizidalität das Ziel eine rasche Linderung der depressiven Symptomatik ist, stellen Medikamente mit einem auf den (NMDA-)Glutamat-Rezeptor gerichteten Wirkmechanismus die bislang einzige zugelassene Option dar. Für langfristige Effekte auf Suizidalität wie auch auf Depressivität liegt bislang keine überzeugende Evidenz vor. Zu Sicherheitsaspekten inkl. Überlegungen zur potenziellen Gefahr von Missbrauch, Abhängigkeit und Toleranzentwicklung siehe Kapitel 7.3.2 Esketamin intranasal.

Die Verortung von Esketamin im Verhältnis zu neurostimulatorischen Verfahren als nicht-medikamentöse Alternative mit sofortigem Wirkeintritt ist unklar. Insbesondere für EKT und rTMS ist die Evidenzbasis zwar breiter und es gibt längere klinische Erfahrungen, die Behandlung ist jedoch mit einer Reihe von Problemen verbunden (z. B. Akzeptanz, regionale Verfügbarkeit) (siehe Kapitel 12.4 Neurostimulatorische Verfahren). Bei der Wahl zwischen Esketamin und neurostimulatorischen Verfahren steht somit die partizipative Entscheidungsfindung unter Abwägung von Nutzen und Risiken, der Verfügbarkeit und der individuellen Präferenzen im Vordergrund.

12.3.6 Ketamin i. v.

Die Leitliniengruppe spricht keine Empfehlung für Ketamin i. v. aus, da die Anwendung off-label ist und ein zugelassenes Medikament mit anderer Galenik (Esketamin intranasal) zur Verfügung steht. Die Anwendung im stationären Setting ist als Einzelfallentscheidung zu verstehen und als individueller Therapieversuch denkbar, unter der Voraussetzung der Einbettung der Behandlung in ein psychiatrisches Gesamtkonzept.

 Evidenzgrundlage Evidenzbasis

Es erfolgte eine systematische Recherche nach aggregierter Evidenz und Primärstudien zum Thema Ketamin sowie zu einem späteren Zeitpunkt eine systematische Recherche nach aggregierter Evidenz zum Thema Suizidalität. Die zweite Recherche erbrachte jedoch keine Reviews, die über die Ergebnisse der Primärstudien-Recherche hinausgehende Studien einschloss, so dass diese Reviews nicht zusätzlich ausgewertet wurden (31824, 31826, 31825, 30625, 30622). Das gleiche gilt für einen kurz nach der Recherche veröffentlichten Cochrane-Review 31750.

 Evidenzbeschreibung Evidenzbeschreibung

RCT zu Ketamin i. v., die Suizidalität als Endpunkt auswerteten, berichten kurzfristige mittlere bis große Effekte. Im Vergleich zu Midazolam zeigte sich nach einmaliger Infusion von Ketamin nach einem Tag eine mittelgroße Reduktion der Suizidgedanken; der Anteil des Ansprechens nach der SSI-Skala lag bei 55% vs. 30% (OR 2,85 (1,14; 7,15); n = 80) 30599. Gegenüber Placebo sowie gegenüber einer Dosis von 0,2 mg/kg Ketamin i. v. war die Behandlung mit 0,5 mg/kg Ketamin i. v. nach 14 Tagen bezüglich des Endpunkts Suizidalität (MADRS Item 10)) effektiver (Post-hoc-Analyse, n = 71) 30590.

Die Aussagekraft ist jedoch aufgrund der sehr kleinen Samples und des hohen Verzerrungsrisikos sehr niedrig (siehe Evidenztabellen im Leitlinienreport 32140). Dem Nutzen der Behandlung stehen Nebenwirkungen wie Kopfschmerzen, Angst, Übelkeit, dissoziative Wahrnehmungen sowie Blutdruckanstieg gegenüber.

12.4 Neurostimulatorische Verfahren

Empfehlung

Empfehlungsgrad

12-17 | neu 2022

Eine Elektrokonvulsionstherapie kann bei akuter Suizidalität zusätzlich zu einer psychotherapeutischen Krisenintervention angeboten werden.

Offene Empfehlung

RationaleRationale

Elektrokonvulsionstherapie (EKT) stellt aus Sicht der Leitliniengruppe eine ergänzende Option bei Suizidalität dar, deren Stärke vor allem der schnelle Wirkungseintritt ist. Sie spricht eine offene Empfehlung aus, da die Evidenzqualität bezüglich Suizid(versuch)en sehr niedrig, die Umsetzung aufwändig und in der Versorgungspraxis aufgrund der begrenzten regionalen Verfügbarkeit nur eingeschränkt möglich ist. Für andere neurostimulatorische Verfahren liegt keine überzeugende Evidenz für den Endpunkt Suizid(versuch)e vor.

 Evidenzgrundlage Evidenzbasis

Die Empfehlung beruht auf einer systematischen Recherche nach aggregierter Evidenz.

 Evidenzbeschreibung Evidenzbeschreibung

Eine qualitativ akzeptable Übersichtsarbeit mit dem Fokus Suizidalität fand für die EKT in 7 von 11 eingeschlossenen Studien eine Verbesserung von suizidbezogenen Endpunkten und numerisch weniger Suizide und Suizidversuche. Mit rTMS wurden in 10 von 12 eingeschlossenen Studien Suizidgedanken reduziert; es wurde jedoch keine Effektivität bezüglich Suiziden und Suizidversuchen berichtet. Die Evidenzqualität und damit die Aussagesicherheit ist sehr niedrig (Verzerrungsrisiko in Nicht-RCTs oder Open-label-RCTs, in Übersichtsarbeiten diagnoseunabhängiger Einschluss; hohe PICO-Heterogenität, kleine Samples, heterogene Ergebnisse). Für andere Verfahren wie tDCS, VNS und DBS war die Evidenzbasis zu klein, um Aussagen treffen zu können 31581. Ein weiterer, qualitativ limitierter Review bestätigt diese Ergebnisse 31582.

Für Sicherheitsaspekte siehe Kapitel 7.3.5.1 Elektrokonvulsionstherapie .

 Überlegungen Erwägungen, die die Empfehlung begründen

Neurostimulatorische Verfahren bieten die Aussicht auf eine rasche Linderung der depressiven Symptomatik. Allerdings sind sie weder flächendeckend verfügbar noch in Notfallsituation in der gebotenen Schnelligkeit umsetzbar. Ihre Verortung zu der ebenfalls schnell wirksamen medikamentösen Behandlung mit Esketamin ist unklar. Insbesondere für EKT und rTMS ist die Evidenzbasis zwar breiter und es gibt längere klinische Erfahrungen, die Behandlung ist jedoch mit einer Reihe von Problemen verbunden (z. B. Akzeptanz, regionale Verfügbarkeit). Bei der Wahl zwischen Esketamin und neurostimulatorischen Verfahren steht somit die partizipative Entscheidungsfindung unter Abwägung von Nutzen und Risiken, der Verfügbarkeit und der individuellen Präferenzen im Vordergrund.

12.5 Nachsorge nach Suizidalität

Empfehlung

Empfehlungsgrad

12-18 | modifiziert 2022

Eine ärztliche oder psychotherapeutische Nachuntersuchung und Folgebehandlung von Patient*innen, die wegen Suizidalität stationär aufgenommen wurden, soll kurzfristig, maximal eine Woche nach Entlassung, organisiert und durchgeführt werden.

Starke Empfehlung

12-19 | modifiziert 2022

Patient*innen, die wegen Suizidalität stationär behandelt wurden und einen Termin zur Nachuntersuchung nach Entlassung nicht wahrnehmen, sollen unmittelbar kontaktiert werden.

Starke Empfehlung

RationaleRationale

Nach der Entlassung aus einer Notaufnahme oder aus einer stationären Behandlung ist das Risiko für erneute suizidale Handlungen sehr hoch. Die Leitliniengruppe nimmt als starkes Versorgungproblem wahr, dass es häufig zu Behandlungslücken kommt. Sie empfiehlt daher konsensbasiert, aus der Klinik heraus verbindliche Termine zur ambulanten Weiterbehandlung zu vereinbaren. Nehmen die Patient*innen diese nicht wahr, muss von einer dringenden Gefahr eines erneuten Suizidversuches ausgegangen werden, so dass eine umgehende aktive Kontaktaufnahme geboten ist.

 Evidenzgrundlage Evidenzbasis

Die konsensbasierte Empfehlung beruht auf epidemiologischen Daten und klinischen Erwägungen.

 Überlegungen Erwägungen, die die Empfehlung begründen

Die ersten Tage und Wochen nach der Entlassung aus einer stationären Behandlung sind mit einem erhöhten Suizidrisiko verbunden. Fast die Hälfte aller Suizide von Menschen, die bereits wegen einer psychischen Erkrankungen stationär behandelt wurden, erfolgt in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit der Entlassung aus der Klinik 31719. Obwohl daher gerade bei Suizidalität dringend notwendig, ist die konsequente Umsetzung des gesetzlich vorgeschriebenen Entlassmanagements nach Erfahrung der Leitliniengruppe nicht so etabliert wie beispielsweise bei internistischen Erkrankungen. Insbesondere erfolgt in der Realität keine konkrete Terminvereinbarung. Eine alleinige Versorgung durch Pflegedienste hält die Leitliniengruppe für nicht ausreichend, sondern befürwortet eine engmaschige ärztliche bzw. psychotherapeutische Betreuung.

Siehe auch:

12.6 Andere Notfälle

12.6.1 Depressiver Stupor

Empfehlung

Empfehlungsgrad

12-20 | neu 2022

Bei depressivem Stupor soll eine stationäre Einweisung und eine Behandlung mit Lorazepam angeboten und im Notfall durchgeführt werden.

Starke Empfehlung

12-21 | neu 2022

Wenn bei depressivem Stupor eine Intervention mit Lorazepam keinen Erfolg hatte, sollte eine Elektrokonvulsionstherapie angeboten werden.

Abgeschwächte Empfehlung

RationaleRationale

Ein depressiver Stupor stellt eine akut lebensbedrohliche Situation dar, aus der sich ein starker Handlungsdruck ergibt. Aufgrund der spezifisch stuporlösenden Wirkung empfiehlt die Leitliniengruppe konsensbasiert einen Therapieversuch speziell mit Lorazepam. Die paternalistische Formulierung für den Notfall wurde gewählt, da bei ausgeprägtem depressivem Stupor eine freie Willensentscheidung nicht möglich ist.

Wenn mit Lorazepam keine ausreichende Wirkung erzielt wird, stellt Elektrokonvulsionstherapie (EKT) aus Sicht der Leitliniengruppe eine ergänzende Option bei depressivem Stupor dar, deren Stärke der schnelle Wirkungseintritt ist. Sie spricht konsensbasiert eine abgeschwächte Empfehlung aus, da keine empirische Evidenz für die Behandlung des depressiven Stupors vorliegt, die Umsetzung aufwändig und in der Versorgungspraxis aufgrund der begrenzten regionalen Verfügbarkeit nur eingeschränkt möglich ist, gute klinische Erfahrungen in Verbindung mit dem hohen Handlungsdruck jedoch eine Empfehlung rechtfertigen.

 Evidenzgrundlage Evidenzbasis

Die konsensbasierten Empfehlungen beruhen auf empirischen Kenntnissen sowie klinischen und versorgungspraktischen Überlegungen.

 Überlegungen Klinische und versorgungspraktische Erwägungen, die die Empfehlung begründen

Der depressive Stupor ist mit einer reduzierten bzw. aufgehobenen psychomotorischen Aktivität ("Erstarren") ohne Bewusstseinsstörung verbunden. Er kann wenige Minuten bis mehrere Wochen andauern und kommt nach Abschätzung der Leitliniengruppe bei etwa 5 bis 10% der Patient*innen mit unipolarer Depression vor. Im häuslichen Umfeld, insbesondere bei allein lebenden Patient*innen, wie auch in Einrichtungen der Altenpflege ist eine Unterdiagnostik zu vermuten.

Eine Behandlung mit Benzodiazepinen erscheint in Anbetracht deren Hauptwirkungen zwar inplausibel, doch hat Lorazepam eine spezifische stuporlösende Wirkung, die klinisch bekannt, deren Mechanismus aber nicht geklärt ist.

Wenn Lorazepam nicht ausreichend anspricht, ist eine EKT aus Sicht der Leitliniengruppe am ehesten geeignet für Patient*innen, die früher bereits eine EKT erhalten haben und bei denen diese daher schnell umsetzbar ist. Bei EKT-naiven Patient*innen ist deren Anwendung im Notfall aufgrund der notwendigen Voruntersuchungen und der damit verbundenen Verzögerungen schwieriger. Ist der Stupor so stark ausgeprägt, dass keine freie Willensentscheidung möglich ist, kommt als verzögernder Faktor die Notwendigkeit der Zustimmung der gesetzlichen Betreuer*innen hinzu.

12.6.2 Agitiertheit, psychomotorische Erregungszustände

Empfehlung

Empfehlungsgrad

12-22 | neu 2022

Bei hochgradiger Agitiertheit im Zusammenhang mit unipolaren Depressionen sollte eine stationäre Einweisung und eine Behandlung mit Benzodiazepinen angeboten werden.

Abgeschwächte Empfehlung

RationaleRationale

Hochgradige Agitiertheit ist für die Patient*innen mit einem starken Leidensdruck verbunden und es besteht die Gefahr eines erhöhten Suizidrisikos. Konsensbasiert empfiehlt die Leitliniengruppe in diesen Fällen eine stationäre Aufnahme, um eine engmaschige Betreuung gewährleisten zu können. Die Behandlung mit Benzodiazepinen dient wegen der beruhigenden und sedierenden Wirkung einer schnellen Entlastung der Patient*innen.

 Evidenzgrundlage Evidenzbasis

Die konsensbasierte Empfehlung beruht auf empirischen Kenntnissen sowie klinischen und versorgungspraktischen Aspekten.

 Überlegungen Klinische Erwägungen

Beim größten Teil der Patient*innen mit unipolaren Depressionen sind Antrieb und Psychomotorik gehemmt. Bei etwa 10 bis 20% kommt es jedoch nach Einschätzung der Leitliniengruppe zu einer Steigerung von Antrieb und Psychomotorik (psychomotorische Unruhe), insbesondere im Zusammenhang mit typischer Komorbidität (z. B. demenzielle Erkrankungen). Steigert sich die Symptomatik zu einer hochgradigen Agitiertheit, kann dies zu impulsiven Handlungen und damit zu einem erhöhten Suizidrisiko führen und es liegt ein psychiatrischer Notfall vor.

12.6.3 Notfälle bei psychotischer Depression

Empfehlung

Empfehlungsgrad

12-23 | neu 2022

Bei vital bedrohlichen Notfallsituationen bei psychotischen Depressionen sollte eine Elektrokonvulsionstherapie angeboten werden.

Abgeschwächte Empfehlung

RationaleRationale

Potenziell lebensbedrohliche Notfallsituationen bei Patient*innen mit psychotischer Depression reichen von Nahrungsverweigerung über depressiven Stupor bis hin zu akuter Suizidalität oder Fremdgefährdung. Da die Evidenz auf eine überdurchschnittliche Effektivität von EKT bei psychotischen Symptomen hindeutet, spricht die Leitliniengruppe eine spezifische Empfehlung dafür aus. Der Empfehlungsgrad ist abgeschwächt, weil die Aussagesicherheit (Evidenzqualität) sehr niedrig, die Umsetzung aufwändig und in der Versorgungspraxis aufgrund der begrenzten regionalen Verfügbarkeit nur eingeschränkt möglich ist.

Zur Diagnostik psychotischer Depressionen siehe Kapitel 2.3.1 Erfassung von Haupt- und Zusatzsymptomen depressiver Episoden und Tabelle 10; zur Behandlung außerhalb von Notfallsituation siehe Kapitel 5.4 Psychotische Depression.

 Evidenzgrundlage Evidenzbasis

Die Empfehlung beruht auf zwei systematischen Recherchen zu neurostimulatorischen Verfahren und zu Interventionen bei Suizidalität sowie auf klinischen Erfahrungen und versorgungspraktischen Überlegungen.

 Evidenzbeschreibung Evidenzbeschreibung

Für Evidenz zur Effektivität von EKT bezüglich Suizidalität siehe Kapitel 12.4 Neurostimulatorische Verfahren. Zusammenfassend deutet die Evidenz auf positive Effekte bezüglich Suiziden und Suizidversuchen hin, bei sehr niedriger Evidenzqualität.

Für Evidenz zur Effektivität von EKT bei psychotischer Depression siehe Kapitel 7.3.5.1 Elektrokonvulsionstherapie. Zusammenfassend erwiesen sich psychotische Symptome als Prädiktoren für die Effektivität einer EKT, bei sehr niedriger Evidenzqualität.

 Überlegungen Klinische und versorgungspraktische Erwägungen, die die Empfehlung begründen

In der gebotenen Schnelligkeit der Notfallsituation ist eine EKT aus klinischer Erfahrung vor allem bei Patient*innen umsetzbar, die früher bereits eine EKT erhalten haben. Bei EKT-naiven Patient*innen ergeben sich aus den notwendigen Voruntersuchungen Verzögerungen, ggf. zusätzlich auch durch die Notwendigkeit der Zustimmung der gesetzlichen Betreuer*innen.

12.6.4 Pharmakogene Notfälle

Psychiatrische Notfälle können auch durch Medikamente ausgelöst werden. Bei den Psychopharmaka zählen dazu Antidepressiva (serotonerges Syndrom; sehr selten), Lithium (Bewusstseinsstörungen), Benzodiazepine (Delir, Entzugserscheinungen) und Neuroleptika (Delir, Stupor). Bei Nicht-Psychopharmaka, die psychiatrische Notfälle auslösen können, sind nach Erfahrung der Leitliniengruppe vor allem höher dosierte Kortikosteroide (Depressionen, Suizidalität, Halluzinationen, Angststörungen), Interferon alpha (Depressionen, Angst, Verwirrtheit) sowie Isoretinoin (Depressionen, Suizidalität, Psychosen) relevant.

12.6.5 Autodestruktives Verhalten

Autodestruktive, d. h. selbstschädigende oder selbstverletzende Handlungen (z. B. sich selbst kratzen, schneiden oder verbrennen) sind eher untypisch für unipolare Depressionen, können aber in sehr seltenen Fällen auftreten. Sie erfüllen für die Patient*innen die Funktion der Spannungsminderung (Reduktion von Unruhe, Unsicherheit, Ängste, Einsamkeit) oder der Selbstbestrafung bzw. der Minderung von Schuldgefühlen.

12.6.6 Notfälle im Zusammenhang mit Suchterkrankungen

Siehe Kapitel 11 Komorbidität und dortige Verweise auf spezifische Leitlinien.

NVL Unipolare Depression, Version 3.2, 2022

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  • Langfassung

    NVL Unipolare Depression, Version 3.2, 2022

  • Kurzfassung

    NVL Unipolare Depression, Version 3.2, 2022

Das Archiv enthält abgelaufene, zurückgezogene Dokumente zur Nationalen Versorgungsleitlinie Unipolare Depression.

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