NVL Typ-2-Diabetes (2023)

1 Epidemiologie

Die Aussagen dieses Abschnitts beruhen auf einer gezielten Suche nach epidemiologischen Daten aus dem deutschen Versorgungskontext. Berücksichtigt wurden dabei insbesondere die Ergebnisse großer bevölkerungsbezogener Studien und Auswertungen von Versorgungsdaten.

1.1 Kritische Bewertung der Daten

Die Zuverlässigkeit der dargestellten epidemiologischen Daten wird durch verschiedene Umstände limitiert. Beeinflussende Faktoren sind beispielsweise die Art der Erhebung, die betrachtete Population (z. B. altersgruppenabhängige Auswertung) und der Zeitpunkt der Erhebung (epidemiologische Entwicklungen, Änderungen von Diagnosekriterien). Daten aus Gesundheitssurveys beruhen zum Teil auf Selbstangaben und Schätzungen.

Die ICD-10-basierte Auswertung von Routinedaten ist von der Qualität der Kodierung abhängig. Während für einige Erkrankungen, wie Diabetes, Bluthochdruck und Herz-Kreislauf-Erkrankungen laut Robert Koch-Institut (RKI) eine gute Übereinstimmung zwischen Abrechnungsdiagnose und klinischer Diagnose bekannt ist und diese Daten dadurch belastbar erscheinen, werden Risikofaktoren wie Übergewicht und Adipositas im Vergleich mit den Angaben in Untersuchungssurveys seltener angegeben 32437. Zu Verzerrungen kann es zudem kommen, wenn bei multimorbiden Patient*innen nicht alle konkurrierenden Diagnosen aufgeführt werden. Im Vergleich mit Survey-Daten haben Abrechnungsdaten den Vorteil, dass sie unabhängig von der Teilnahmebereitschaft routinemäßig erhoben werden. Es können aber nur Aussagen über eine Teilpopulation der Gesamtbevölkerung gemacht werden, wie beispielsweise über alle gesetzlich Krankenversicherten, die im Erhebungszeitraum ärztlich vorstellig wurden. Personen mit privater Krankenversicherung und Leistungen außerhalb der gesetzlichen Abrechnungssystematik werden hierbei nicht erfasst und von schätzungsweise 12,2% der Bevölkerung liegen bei diesen Auswertungen keine Informationen zum Krankheitsgeschehen vor (32478 zitiert nach 32437).

Zur Beschreibung der Versorgungssituation wurden zum Teil stellvertretend die Qualitätssicherungsberichte der KV-Region Nordrhein, oder die auf der Ebene des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen aggregierte Darstellung zu den DMP-Ergebnissen aus den beiden KV-Regionen Nordrhein und Westfalen-Lippe herangezogen 32438. In diesen beiden Regionen werden die Daten bei einem überwiegenden Teil der gesetzlich versicherten Personen mit Typ-2-Diabetes erfasst. Einschränkend ist zu berücksichtigen, dass die Daten in anderen KV-Regionen abweichen können und regionale Unterschiede nicht abgebildet werden. Zudem ist die Art der Datenerhebung bei der Interpretation zu berücksichtigen.

Die DMP-Dokumentation zur diabetischen Retinopathie wird beispielsweise nicht von den betreuenden Augenärzt*innen vorgenommen, sondern von den Hausärzt*innen bzw. Diabetolog*innen. Eine Angabe dazu, ob eine augenärztliche Untersuchung stattgefunden hat, ist in der DMP-Dokumentation verpflichtend ("Untersuchung durchgeführt/veranlasst/nicht erfolgt"). Die Angabe, ob eine diabetische Retinopathie als Spätfolge vorliegt, ist allerdings optional 32737. Die Anzahl der Personen mit fundoskopisch nachgewiesener und im DMP dokumentierter diabetischer Retinopathie und/oder Makulopathie wird im Qualitätssicherungsbericht zu der Gesamtheit aller im DMP eingeschriebenen Personen ins Verhältnis gesetzt. Durch die optionale Erfassung bleibt unklar, ob die verbleibenden Personen augenärztlich untersucht wurden, ob eine Retinopathie beschrieben wurde oder nicht. Für den vertraglich definierten Qualitätsindikator einer mindestens alle zwei Jahre erfolgten ophthalmologischen Netzhautuntersuchung wird dabei nur das Dokumentationsfeld "Untersuchung durchgeführt" (Zähler) ausgewertet. Die Anzahl dieser Fälle wird in das Verhältnis zu allen DMP-Patient*innen mit mindestens zweijähriger Teilnahmedauer (Nenner) gesetzt. Beide Quoten, also der Anteil von Patient*innen im DMP mit einer dokumentierten diabetischen Retinopathie und der Anteil von Patient*innen mit einer durchgeführten Netzhautuntersuchung, sind dabei vollkommen unabhängig voneinander. Es kann also aus der DMP-Dokumentation nicht abgeleitet werden, ob eine Retinopathie bei der augenärztlichen Untersuchung festgestellt worden ist 32737.

1.2 Prävalenz und Altersabhängigkeit

In der bundesweiten Befragungsstudie Gesundheit in Deutschland aktuell (GEDA 2019/2020-EHIS) des Robert Koch-Instituts (RKI) wurden zwischen April 2019 und September 2020 Daten zur selbsteingeschätzten Gesundheit von 22 708 Erwachsenen (ab 18 Jahren) erhoben 32433. 8,9% der Befragten (95% KI 8,4; 9,5) geben an, dass innerhalb der letzten 12 Monate ein bekannter Diabetes mellitus (ohne Schwangerschaftsdiabetes) vorlag (Frauen 8,2% (95% KI 7,5; 9,1), Männer 9,6% (95% KI 8,8; 10,5)). In der Altersgruppe unter 45 Jahren liegt die 12-Monatsprävalenz für beide Geschlechter unter 3,5%, steigt mit zunehmendem Alter an und erreicht das Maximum in der Altersgruppe von ≥ 80 Jahren (Frauen 17,9% (95% KI 14,4; 22,0), Männer 22,3% (18,1; 27,2)). Nach den vorliegenden Ergebnissen berichtet im Altersbereich von 45 bis 64 Jahren fast jede zehnte und ab 65 Jahren jede fünfte Person von einem bekannten Diabetes mellitus. Bei Frauen ist ein Bildungsgradient mit mehr als vierfach höherer Prävalenz in der unteren Bildungsgruppe (13,5% (95% KI 11,0; 16,4)) als in der oberen Bildungsgruppe (3,9% (95% KI 3,4; 4,5)) zu beobachten. Bei Männern ist dieser Gradient weniger stark ausgeprägt, die Prävalenz in der unteren, mittleren und obere Bildungsgruppe liegt bei 8,8%, 10,8% und 7,6% 32433.

In der Analyse des IQWiG zur Bestimmung der GKV-Zielpopulation für die Indikation Diabetes mellitus Typ 2 mittels GKV-Routinedaten (Generalauftrag, GA16-03 32447) wurden nicht nur dokumentierte Diagnosen, sondern auch Daten zur antidiabetischen Medikation genutzt, um Betroffene aus den DaTraV-Versorgungsdaten des DIMDI aus 2013 aufzugreifen und einem Diabetestyp zuzuordnen. Rund 67,2 Millionen Personen bildeten nach der Analyse die Grundgesamtheit der Versicherten. Von diesen wurden rund 6,6 Millionen zur Grundgesamtheit Diabetes mellitus gerechnet und hiervon 6,2 Millionen zur Grundgesamtheit Typ-2-Diabetes (92,88%). Die DaTraV-Versorgungsdaten umfassen Informationen zu Diagnosen und Verordnungen aller gesetzlich Versicherten in Deutschland 32447.

Nach Auswertungen des Robert Koch-Instituts ist die Prävalenz des bekannten Diabetes innerhalb der letzten Dekaden gestiegen. Lag sie in der 18- bis 79-jährigen Bevölkerung auf Datengrundlage der Bundes-Gesundheitssurvey zwischen 1997 und 1999 (BGS98) bei 5,2%, wurde sie zwischen 2008 und 2011 in der Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS1) mit 7,2% berechnet und in der Querschnittsstudie GEDA 2019/2020-EHIS mit 8,9% (selbstberichtete Gesundheit; Diabetes, ohne Schwangerschaftsdiabetes) angegeben 32433, 31131. Diese Zunahme der Prävalenz ist nach Einschätzung des RKI neben der demografischen Alterung der Bevölkerung auch auf andere Einflussfaktoren wie veränderte Diagnosekriterien, eine Abnahme des unbekannten Diabetes zugunsten des bekannten Diabetes, als auch auf die bessere Versorgung des diagnostizierten Diabetes zurückzuführen 31131, 30139. Modellierungen legen einen weiteren Anstieg der Prävalenz in den kommenden Jahren nahe 32430.

1.3 Altersstruktur und Versorgungssituation der Menschen mit Typ-2-Diabetes in Deutschland

Im Jahr 2020 wurden 571 338 Menschen in der KV-Region Nordrhein im DMP Diabetes mellitus Typ 2 betreut. Dies machte etwa einen Anteil von 89–97% aller mutmaßlich Betroffenen gesetzlich krankenversicherten Personen aus. 556 010 (97,3%) hatten eine aktuelle Folgedokumentation. Auf diese Teilgruppe beziehen sich alle folgenden Angaben. 91,3% der Menschen wurden hausärztlich betreut, das mittlere Alter lag bei 68,6 ± 12,7 Jahren. 39,2% waren jünger als 65 Jahre, 26,9% in der Altersgruppe von 66 bis 75 Jahren und 33,9% 76 Jahre oder älter. Die durchschnittliche Betreuungsdauer im DMP lag bei 8,6 ± 5,3 Jahren, jeweils ca. ein Drittel wurde bis zu 5 Jahren (31,9%), 5 bis 11 Jahre (32,2%) bzw. über 11 Jahre (35,9%) betreut 32313.

Etwa ein Drittel der Betroffenen erhielt im Jahr 2020 keine medikamentöse antidiabetische Therapie (30,8%), knapp die Hälfte (47,5%) wurden mit oralen Antidiabetika und 21,7% mit Insulin/oralen Antidiabetika behandelt. Bei der Betrachtung von Längsschnittdaten des DMP zeigt sich, dass bei Betroffenen, die 2014 noch keine medikamentöse antidiabetische Therapie erhielten, die Verordnungsrate von Metformin und anderen oralen antidiabetischen Medikamenten über die Zeit deutlich zunahm. Die Verordnungrate von Insulin stieg nur langsam. Bei Betroffenen, die 2014 bereits medikamentös antidiabetisch behandelt wurden sanken die Verordnungsraten von Metformin und Glibenclamid, während die von Insulin und anderen Antidiabetika anstiegen 32313.

Bei knapp 60% der Betroffenen wurde der HbA1c-Zielwert erreicht und bei knapp 90% lag der HbA1c-Wert ≤ 8,5% (69 mmol/mol). 36,8% der Menschen im DMP-Programm hatten einen HbA1c-Wert unter 6,5% (48 mmol/mol), in der Altersgruppe über 70 Jahre waren es fast 40% der Betroffenen. Der mittlere HbA1c aller Patient*innen im DMP lag bei 7,01 ± 1,24%. Schwere Hypoglykämien und stationäre Diabetesbehandlungen konnten in 99,6% bzw. 99,8% der Fälle vermieden werden.

Die Qualitätsziele zur Beurteilung der Versorgungsqualität im DMP-Programm wurden überwiegend erreicht. Der Fußstatus wurde bei den meisten Betroffenen (83,3%) komplett untersucht und die Füße regelmäßig inspiziert (95,6%). Bei bestehendem Ulkus wurde der Pulsstatus überprüft (89,9%), aber in weniger als der Hälfte der Fälle (44,5%) wurde ein Ulkus adäquat versorgt 32313.

Die Netzhaut wurde nach Angaben der im DMP dokumentierenden Ärzt*innen in 62,4% der Fälle zweijährlich untersucht. Hier zeigte sich eine große Schwankungsbreite der Zielerreichung pro Praxis. Die Nierenfunktion wurde in knapp 90% der Fälle jährlich überprüft.

Knapp der Hälfte der Teilnehmenden im DMP-Programm (44,2%) wurde im DMP-Verlauf eine Diabetes-Schulung empfohlen und 54,5% haben die empfohlene Schulung wahrgenommen 32313.

1.4 Unerkannter Diabetes mellitus

Daten aus der Nationalen Diabetes-Surveillance des Robert Koch-Instituts legen nahe, dass Diabetes bei einem Teil der Betroffenen zunächst unbemerkt verläuft. Im Jahr 2010 (DEGS1-Studie, 2008-2011) betrug die geschätzte Gesamtprävalenz der 18- bis 79-jährigen Bevölkerung 9,2% (95% KI 8,3; 10,3). Davon hatten 7,2% (95% KI 6,5; 8,0) einen bekannten Diabetes, 2,0% (95% KI 1,5; 2,7) waren von einem bislang unerkannten Diabetes (HbA1c ≥ 6,5% bzw. 48 mmol/mol) betroffen 30139, 31130. In der Auswertung der Daten zur Mortalität des Bundes-Gesundheitssurveys 1998 im Verlauf zeigten Personen mit unbekanntem Diabetes (HbA1c ≥ 6,5% bzw. 48 mmol/mol) im altersadjustierten Vergleich zu Personen ohne einen Diabetes ein höheres Sterberisiko (altersadjustierte HR 1,9) 31131. Das Sterberisiko im Vergleich zu Personen ohne Diabetes lag damit in einer ähnlichen Größenordnung wie das beobachtete Sterberisiko der Personen mit bekanntem Diabetes (1,7-fach). Als methodische Einschränkung ist unter anderem die limitierte Datenlage, die für die Schätzungen zur Verfügung steht, zu berücksichtigen 31131, 30139. Die Prävalenz des unerkannten Diabetes hat zwischen dem Bundes-Gesundheitssurvey 1998 (BGS98) und der DEGS1-Studie abgenommen. Ob sich dieser Trend in den darauffolgenden Jahren fortgesetzt hat, ist aktuell nicht bekannt. Bevölkerungsweite Untersuchungssurveys hierzu stehen aktuell noch aus 32437.

1.5 Diabetesbedingte Mortalität

Die Exzess-Mortalität von Menschen mit Diabetes wurde auf Basis von Versorgungsdaten von 47,3 Millionen gesetzlich Krankenversicherten ≥ 30 Jahre (2013/2014) berechnet (DaTraV-Datensatz). Die altersadjustierte Sterberate lag bei Menschen ab 30 Jahren mit Diabetes (ICD-10: E10-E14) 1,54-fach höher als bei Personen ohne Diabetes 30139, 32442. Mit zunehmendem Alter sank die Exzessmortalität ab. In der Altersgruppe der 30- bis 34-Jährigen betrug sie für Frauen das 6,76-fache (95% KI 4,99; 9,15) und für Männer das 6,87-fache (95% KI 5,46; 8,64), in der Gruppe der 60- bis 64-Jährigen das 2,14- (Frauen) bzw. 1,85-fache (Männer) und bei den über 95-Jährigen das 1,13- (Frauen) bzw. 1,11-fache (Männer) 30139, 32442.

1.6 Begleiterkrankungen und Folgekomplikationen

In einer aktuellen Querschnittsstudie auf Basis ambulanter vertragsärztlicher Abrechnungsdaten aus dem Jahr 2019 wurde die Prävalenz von Begleiterkrankungen (Adipositas, Bluthochdruck, koronare Herzkrankheit, Herzinsuffizienz, Schlaganfall und Depression) bei Personen mit (ICD-10: E10–E14) und ohne Diabetes berechnet 32437. Hierzu wurde ein Fall-Kontroll-Design gewählt und das Prävalenz-Risiko (PR) als Quotient ermittelt. Grundlage der Analyse waren die bundesweiten krankenkassenübergreifenden vertragsärztlichen Abrechnungsdaten des Jahres 2019 aller gesetzlich Krankenversicherten, sofern sie mindestens einen ambulanten Arztkontakt hatten (n = 56 648 639 Erwachsene) 32437. Für Adipositas und Bluthochdruck zeigten sich die größten relativen Unterschiede in der Gruppe der 18- bis 29-Jährigen (Adipositasprävalenz: Frauen mit Diabetes 30,7%, ohne Diabetes 4,0%; Männer mit Diabetes 17,1%, ohne Diabetes 2,8%; Prävalenz des Bluthochdrucks: Frauen mit Diabetes 12,6%, ohne Diabetes 1,6%; Männer mit Diabetes 14,3%, ohne Diabetes 3,0%). Für die koronare Herzkrankheit, Herzinsuffizienz, Schlaganfälle und Depressionen zeigten sich in der Altersgruppe der 30- bis 59-Jährigen die größten relativen Unterschiede. Mit zunehmendem Alter verringerten sie sich.

Über alle Altersgruppen hinweg waren Menschen mit Diabetes häufiger von Bluthochdruck, koronarer Herzkrankheit, Herzinsuffizienz, Schlaganfall und Depressionen betroffen und zeigten im Vergleich zu Menschen ohne Diabetes eine 1,4- bis 1,9-fach höhere Prävalenz (z. B. Bluthochdruck: Frauen mit Diabetes 80,7%, ohne 56%; Männer mit Diabetes 79%, ohne 55,1%; siehe auch Kapitel 1.6.5 Depressive Störungen und 1.6.6 Kardiovaskuläre Erkrankungen). Bezogen auf die Adipositas lag die Prävalenz 3,8- bzw. 3,7-fach höher als ohne Diabetes (Prävalenz: Frauen mit Diabetes 34,2%, ohne 9,1%; Männer mit Diabetes 30,2%, ohne 8,1%). Als Limitationen der Studie sind unter anderem die fehlende Erfassung von Daten privat Krankenversicherter, stationärer Diagnosen und Personen ohne ärztlichen Kontakt zu berücksichtigen. Leistungen, die außerhalb der gesetzlichen Abrechnungssystematik erbracht werden, wurden ebenfalls nicht berücksichtigt. Von den Autor*innen der Studie wird zudem diskutiert, dass zu einigen beeinflussenden Faktoren eine Adjustierung nicht stattfand, da entsprechende Daten nicht vorlagen (z. B. Erhebung der sozialen Lage). Über weite Bereiche wird von den Studienautor*innen eine gute Übereinstimmung der berechneten Häufigkeiten mit den Ergebnissen der bevölkerungsrepräsentativen DEGS1-Studie berichtet. Als Gründe für die im Vergleich zur DEGS1-Studie erhobenen höheren Prävalenz des bekannten Diabetes (Frauen 8,5%, Männer 10,5%) wird neben der reinen Zunahme der Prävalenz auch die Abnahme des unerkannten Diabetes diskutiert (siehe auch Kapitel 1.4 Unerkannter Diabetes mellitus) 32437.

Laut dem Bericht der strukturierten Behandlungsprogramme der gesetztlichen Krankenkassen zur Indikation Diabetes (Berichtszeitraum 2003 bis 2019) liegen bei einem Teil der Personen bei Eintritt in das DMP-Programm bereits diabetesspezifische Komplikationen und/oder kardiovaskuläre Begleiterkrankungen vor (im Beitrittshalbjahr: diabetische Neuropathie 10,34%, diabetische Nephropathie 5,18%, diabetische Retinopathie 3,09%, koronare Herzkrankheit 16,44%). Insgesamt wurden 11 773 687 Patient*innen bzw. Fälle ausgewertet 31307. Ähnliche Hinweise ergeben sich aus dem Qualitätsbericht des DMP-Nordrhein von 2009, in dem nicht das Beitrittsjahr in das DMP-Programm, sondern die Erkrankungsdauer (als klinisch bekannter Diabetes) betrachtet wurde. Von den Betroffenen mit einer Erkrankungsdauer ≤ 6 Jahren war bei 83,6% der Frauen und 81,4% der Männer eine Hypertonie bekannt, bei 19,0 und 28,7% eine koronare Herzkrankheit und bei 11,7 bzw. 13,9% lag nach Kenntnis des betreuenden Arztes/der betreuenden Ärztin eine diabetische Neuropathie vor. Eine diabetische Nephropathie wurde bei 5,8 bzw. 7,5%, eine diabetische Retinopathie bei 5,1 bzw. 4,9% der weiblichen bzw. männlichen Teilnehmenden berichtet 19795. Einschränkungen bei der Datenerhebung sind bei der Interpretation zu berücksichtigen (siehe Kapitel 1.1 Kritische Bewertung der Daten). Für Betroffene, die ab dem 01. Juli 2008 in das DMP-Nordrhein eingeschrieben wurden, liegen keine Angaben zur Erkrankungsdauer vor, da diese als Dokumentationsparameter entfallen ist. In nachfolgenden Berichten wurde daher weitgehend auf erkrankungsdauerbezogene Darstellungen verzichtet 21625. Aufgrund der hohen Korrelation zwischen Alter und Erkrankungsdauer der Menschen mit Typ-2-Diabetes im DMP halten die Autor*innen des Qualitätssicherungsberichtes 2010 eine altersabhängige Darstellung der Ergebnisse als Ersatz für die weggefallene Erkrankungsdauer für durchaus angemessen. Fast 60% der Patient*innen im Alter bis zu 65 Jahren seien bis zu maximal sechs Jahre an Diabetes erkrankt 21625.

Nach den Ergebnissen der Disease-Management-Programme aus Nordrhein-Westfalen für das Jahr 2020 waren bei 45,8% der Menschen im DMP Diabetes mellitus Typ 2 keine oder andere Komorbiditäten bekannt, bei 17% bestanden nach Kenntnis des betreuenden Arztes/der betreuenden Ärztin kardiovaskuläre Erkrankungen, bei 19,9% diabetische Folgeerkrankungen und bei 17,3% lagen sowohl kardiovaskuläre als auch diabetische Folgeerkrankungen vor. Die Häufigkeit des Auftretens von Folge- und Begleiterkrankungen stieg mit zunehmendem Alter an 32438.

Bei Betrachtung der zeitlichen Entwicklung der Inzidenzen von Endstadien der Folgeerkrankungen (z. B. Erblindung, Amputation, Schlaganfall, terminale Niereninsuffizienz) auf Basis von Krankenkassendaten und populationsbezogenen Registern ist insgesamt eine Reduktion zu beobachten. Die Inzidenz der jeweiligen Erkrankung blieb im Vergleich zu Personen ohne Diabetes erhöht 33256, 33257, 33258, 33259, 33260.

 Kapitel 1.6.1 Diabetische Neuropathie

Zur Epidemiologie der diabetischen Neuropathie liegen zahlreiche unterschiedliche Daten vor. Die geringe Übereinstimmung der Ergebnisse kann durch unterschiedliche diagnostische Kriterien und Untersuchungsmethoden sowie Unterschiede der untersuchten Populationen erklärt werden. Laut Angaben des RKI variieren die Prävalenzschätzungen aus Routine- und Surveillance-Daten zwischen 14 und 28% und für weitere Studien außerhalb Deutschlands zwischen 8–51% 32439. Viele Studien sind klinik- oder zentrumsbasiert und die Population mithin selektioniert.

Im Rahmen der Diabetes-Surveillance des RKI wurde der Anteil an Personen mit Diabetes, bei denen eine diabetische Polyneuropathie dokumentiert ist, auf Basis von Versorgungsdaten aller gesetzlich Krankenversicherten geschätzt. Im Jahr 2013 betrug er 13,5% (Frauen 12,7%, Männer 14,4%). Einschränkend sind die variierenden Dokumentations- und Diagnosestandards zu berücksichtigen, die einen Vergleich mit anderen Studien und Datenquellen erschweren 30139. Nach Ergebnissen des DMP Nordrhein-Westfalen (für das Jahr 2020) lag die Häufigkeit der diabetischen Neuropathie in der Gruppe der unter 66-Jährigen bei 16,9% (weiblich) bzw. 18,7% (männlich), in der Altersgruppe über 75 Jahre bei 38,4 bzw. 41,6% und für die Gesamtgruppe bei 28,6% 32438.

 Kapitel 1.6.2 Diabetische Fußläsionen

Der Anteil an Menschen mit Diabetes, bei denen im Jahr 2013 ein diabetisches Fußsyndrom dokumentiert wurde, beträgt nach Angaben des RKIs 6,2% (Frauen 5,7%, Männer 6,6%) 32439. Grundlage der Erhebung waren die GKV-Versichertendaten der Berichtsjahre 2012 und 2013. Die geschätzte Prävalenz steigt annähernd linear mit dem Alter an. Nach Daten des DMP Nordrhein-Westfalen aus dem Jahr 2020 hatten 9,6% der Betroffenen einen auffälligen Fußstatus. In der Altersgruppe unter 66 Jahren war der Fußstatus bei 7,0% (weiblich) und 7,6% (männlich) auffällig, in der Altersgruppe über 75 Jahre bei 12,2 bzw. 11,9% 32438. Im zeitlichen Verlauf lässt sich ein Anstieg der Häufigkeit in Versichertendaten zwischen 2010 (WIdO) 2,7% und 2015 (DAK) 10,9% feststellen. Ein möglicher Grund hierfür kann eine geänderte Rahmenempfehlung zur Verordnung podologischer Leistungen sein, welche die Dokumentation des diabetischen Fußsyndroms seit 2011 vorraussetzt 30139, 32439.

 Kapitel 1.6.3 Nephropathie bei Diabetes

Nach Daten des RKI lag der Anteil an gesetzlich krankenversicherten Personen mit Diabetes, bei denen eine chronische Niereninsuffizienz dokumentiert wurde im Jahr 2013 insgesamt bei 15,1% 30139. Sowohl in diesen DaTraV-Daten von 2013 (Versorgungsdaten aller gesetzlich Versicherten) als auch in den Daten des DMP-Programms aus Nordrhein und Nordrhein-Westfalen zeigt sich ein altersabhängiger Anstieg der Nephropathie-Rate (z. B. DaTraV-Daten: 50–59 Jahre 6,0%; 70–79 Jahre 18,3%; ≥ 90 Jahre 30,2%) 32438, 30139, 32313. Studien und Register, welche die Nierenfunktion mittels Laborwerten abschätzen, geben höhere Raten an, was zum Teil über den Anteil unerkannter Fälle erklärt werden kann 30139.

Nach der auf der Ebene des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen aggregierten Darstellung zu den DMP-Ergebnissen aus den beiden KV-Regionen Nordrhein und Westfalen-Lippe lag der Anteil an Personen im DMP Typ-2-Diabetes mit Dialysetherapie für das Jahr 2022 bei 0,6%. Bei relativ stabiler absoluter Anzahl an Patient*innen mit Dialysebehandlung in den Jahren 2011 bis 2020, nahm der relative Anteil bezogen auf die im DMP eingeschriebenen Personen mit der Zeit ab (2011: 21,09 pro 10 000 Patient*innen; 2020: 16,07 pro 10 000 Patient*innen) 32438.

 Kapitel 1.6.4 Diabetische Retinopathie

Angaben zur Prävalenz der diabetischen Retinopathie schwanken stark in Abhängigkeit der untersuchten Stichprobe. Nach Daten aus dem Qualitätsbericht des DMP Nordrhein-Westfalen aus dem Jahr 2020 (insgesamt 970 423 Personen mit Typ-2-Diabetes) war den betreuenden Ärzt*innen bei 7,4% der Frauen und 8,0% der Männer in der Altersgruppe der 66- bis 75-Jährigen eine diabetische Retinopathie bekannt und wurde dokumentiert 32438. In der Altergruppe ab 75 Jahren waren es 10,6% (Frauen) bzw. 11,4% (Männer) und insgesamt über alle Altersgruppen 7,3% für beide Geschlechter 32438. Zu den Einschränkungen der Datenerhebung siehe Kapiel 1.1 Kritische Bewertung der Daten.

In deutschen Studien lagen die Retinopathieraten zwischen 10,3% und 15,7% (DETECT-Studie (2003-2007) 10,3% 23945, 23946, Studie der Deutschen BKK (2002-2004) 10,6% 21671, KORA-Studie (2000) 13% 4946, Wolfsburg-Studie (1997-2000) 15,7% 23930, alle zitiert nach 26174). Höhere Retinopathieraten wurden in der Gutenberg Health Study 24724 gemessen. In dieser bevölkerungsbasierten Studie wurden 15 010 Personen im Alter von 35 bis 74 Jahren untersucht. 7,5% der Personen in der Kohorte (1 124/15 010) waren von einem Diabetes betroffen, 27,7% der Erkrankungen waren bis zur Studienteilnahme unerkannt. Die Prävalenz der diabetischen Retinopathie (Diagnose anhand einer Fundusfotografie) betrug 21,7%, eine diabetische Makulopathie trat in 2,3% der Fälle auf 24724.

Die schwankenden Prävalenzangaben sind neben der gewählten Stichprobe auch auf den Zeitpunkt der Erhebung zurückzuführen. Die Wahrscheinlichkeit, eine Retinopathie zu entwickeln, hat in den letzten Jahrzehnten abgenommen. Nach Daten des DMP Nordrhein lag die Retinopathierate im Jahr 2009 bei 11,4%, (n = 423 518 Personen im DMP Diabetes mellitus Typ 2) 19795, im Jahr 2013 bei 9,2% (503 885 Menschen mit Typ-2-Diabetes) 24060 und 2018 bei 7,6% (n = 558 954 Personen im DMP Diabetes mellitus Typ 2) 32543. Als mögliche Gründe hierfür werden die parallel hierzu im Durchschnitt niedrigeren HbA1c-Werte und die vorgezogene Diagnosestellung diskutiert 26174.

Die tatsächlichen Retinopathieraten werden im DMP-Programm möglicherweise unter anderem dadurch unterschätzt, dass nicht bei allen Menschen mit Diabetes eine augenärztliche Untersuchung entsprechend der Leitlinienempfehlungen erfolgt. Das Qualitätsziel, die Netzhaut regelmäßig (zweijährlich) untersuchen zu lassen, wurde im Jahr 2020 – soweit es den im DMP dokumentierenden Personen (Hausärzt*innen, Diabetolog*innen) bekannt war – von 66,7% (558 092/837 153) der im DMP Nordrhein-Westfalen eingeschriebenen Personen erreicht, wobei ein Anteil von mindestens 90% anzustreben ist 32438. Bis 2016 war zur Erreichung des Qualitätsziels eine Netzhautuntersuchung innerhalb der letzten 12 und nicht 24 Monate notwendig gewesen, weswegen die Daten im Zeitverlauf nur eingeschränkt vergleichbar sind 32438.

 Kapitel 1.6.5 Depressive Störungen

Nach dem bundesweiten RKI-Befragungssurvey (GEDA 2014/2015-EHIS) lag eine depressive Symptomatik bei 15,4% (Frauen 19,2%, Männer 12,3%) der Menschen mit Typ-2-Diabetes vor. Altersadjustiert fiel zwischen den Gruppen die Chance auf Vorliegen einer depressiven Symptomatik bei Personen mit Diabetes im Vergleich zu Personen ohne Diabetes mehr als doppelt so hoch aus (OR gesamt 2,20; Frauen 2,47; Männer 2,06) 30139. Auch in einer aktuellen Querschnittsstudie auf Basis ambulanter vertragsärztlicher Abrechnungsdaten aus dem Jahr 2019 lag bei Menschen mit Diabetes häufiger eine Depression vor als bei Menschen ohne Diabetes (Frauen mit Diabetes 26,9%, ohne 19,8%; Männer mit Diabetes 15,9%, ohne 11,4%) 32437. Die höheren Werte dokumentierter Diagnosen im Vergleich zu Daten aus einem Befragungssurveys sind nach Angaben des RKI bekannt und werden andernorts diskutiert (siehe 32437).

 Kapitel 1.6.6 Kardiovaskuläre Erkrankungen

In einer aktuellen Querschnittsstudie auf Basis ambulanter vertragsärztlicher Abrechnungsdaten aus dem Jahr 2019 waren Menschen mit Diabetes im Vergleich zu Menschen ohne Diabetes häufiger von koronarer Herzkrankheit, Herzinsuffizienz und Schlaganfall betroffen (koronare Herzkrankheit: Frauen mit Diabetes 20,7%, ohne 10,6%; Männer mit Diabetes 31,2%, ohne 17,8%; Herzinsuffizienz: Frauen und Männer mit Diabetes 20,2%, ohne 10,8%; Schlaganfall: Frauen mit Diabetes 6,8%, ohne 3,9%; Männer mit Diabetes 8,0%, ohne 4,9%) 32437 (zur Studienbeschreibung siehe auch Kapitel 1.6 Begleiterkrankungen und Folgekomplikationen). In der Altersgruppe der 30- bis 59-Jährigen zeigten sich die größten relativen Unterschiede, mit zunehmendem Alter verringerten sie sich.

Nach Daten der DEGS1-Studie lag der Anteil von kardiovaskulären Erkrankungen im Jahr 2010 bei Menschen mit Typ-2-Diabetes über alle Altersgruppen (45 bis 79 Jahre) bei 37,1% und in der Altersgruppe der 65- bis 79-Jährigen bei 46,2% 30139. Ähnliche Angaben macht das Zentralinstitut für die Kassenärztliche Versorgung (Zi) über die Ergebnisse der Disease-Management-Programme in Nordrhein-Westfalen. Für das Jahr 2020 bestanden bei insgesamt 34,3% der Menschen im DMP Diabetes mellitus Typ 2 nach Kenntnis des betreuenden Arztes/der betreuenden Ärztin entweder kardiovaskuläre Folgeerkrankungen alleine (17%), oder es lagen sowohl kardiovaskuläre als auch diabetische Folgeerkrankungen vor (17,3%) 32438.

NVL Typ-2-Diabetes, Version 3.0, 2023

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