Methodenreport, Version 6

7 Entwicklung und Konsensprozess

Die Koordination der NVL-Entwicklung obliegt dem ÄZQ. Neue NVL und Überarbeitungen von > 5 Empfehlungen (Teilaktualisierungen) werden bei der AWMF angemeldet (www.awmf.org/regelwerk). Zum Vorgehen bei Aktualisierungen siehe Kapitel 9.2 Aktualisierungsprozess.

Die Erarbeitung der NVL erfolgt unter wesentlicher Berücksichtigung der jeweils aktuellen Fassung des AWMF-Regelwerks Leitlinien, entsprechend den Regeln für S3-Leitlinien 33979, der Konzepte des Internationalen Leitlinien-Netzwerks GIN 21761, und des Leitlinienbewertungsinstruments AGREE II 19444.

7.1 Auftaktsitzung

Die erste Sitzung der Leitliniengruppe (konstituierende Sitzung bei Neuerstellung oder Aktualisierung) dient insbesondere der Überprüfung der Vollständigkeit und Konformität der Leitliniengruppe, der Einführung in die Methodik der NVL entsprechend der Regeln von S3-Leitlinien, der Diskussion möglicher Interessenkonflikte, der Schaffung eines gemeinsamen Arbeitsverständnisses sowie der Festlegung einer konkreten Vorgehensweise, um eine konstruktive Zusammenarbeit zu ermöglichen. Bei Bedarf kann in einer Leitliniengruppe die inhaltliche Arbeit durch eine Koordinierungsgruppe koordiniert werden. Die Mitglieder der Koordinierungsgruppe werden aus dem Kreis der Leitliniengruppe gewählt und sollten die wichtigsten Adressat*innen repräsentieren.

Zu Beginn der Leitlinienerstellung werden von der Leitliniengruppe die Themenschwerpunkte nach definierten Kriterien (z. B. prioritäres Versorgungsproblem, relevante Variabilität der Versorgung) festgelegt, die spezifischen Ziele der NVL abgestimmt sowie die konkreten Fragestellungen formuliert. Die bei der Evidenzaufbereitung zu berücksichtigenden und für die Empfehlungsgraduierung relevanten Endpunkte werden in einem strukturierten Prozess priorisiert (siehe Endpunktpriorisierung). Im Vorfeld der Leitlinienarbeiten werden Umfragen unter den Betroffenen der jeweiligen Erkrankungsbilder sowie deren An- und Zugehörigen bzw. Beratenden durchgeführt, um die Erfahrungen und Herausforderungen aus der Versorgungspraxis für die Weiterführung und ggf. Anpassung der NVL-Inhalte nutzbar zu machen. Die Fragestellungen werden in das PICO-Format (Population/Intervention/Comparision/Outcome bzw. Endpunkt) überführt.

Endpunktpriorisierung

Leitlinien-Empfehlungen sollten die für Betroffene wichtigsten Endpunkte berücksichtigen. Vor der Evidenzrecherche sammelt die Leitliniengruppe Vorschläge für relevante Endpunkte. Im Rahmen eines strukturierten Surveys (elektronische Umfrage) werden die Endpunkte gemäß ihrer Relevanz für die Entscheidungsfindung mit Hilfe einer 9-Punkte-Likert-Skala bewertet 32998, 20830. Dabei gelten

  • 7–9 Punkte als kritisch für die Entscheidungsfindung,
  • 4–6 Punkte als klinisch wichtig, aber nicht entscheidend für die Empfehlung,
  • 1–3 Punkte als von geringer Bedeutung für die Entscheidung.

Endpunkte gelten als "kritisch", wenn sie mit im Median ≥ 7 Punkten oder von mindestens der Hälfte der Abstimmenden als "kritisch" eingeschätzt wurden. Maximal 7 als "kritisch" bewertete Endpunkte werden extrahiert. Gemäß dem Grundsatz "primum non nocere" gelten unerwünschte Wirkungen stets als kritisch für die Entscheidungsfindung. Sie sind daher nicht Bestandteil der Endpunktpriorisierung und werden generell extrahiert.

7.2 Evidenzbasis

Dieser Methodenreport beschreibt die allgemeinen Vorgehensweisen zur Identifikation relevanter Evidenz. Grundlage für die Erstellung der Empfehlungen der NVL sind systematische Evidenzrecherchen mit kritischer Bewertung der Evidenz hinsichtlich ihrer Aussagesicherheit. Das spezifische methodische Vorgehen hinsichtlich aller Recherchen, der Auswahl und kritischen Bewertung von Quellen wird für die jeweilige NVL im spezifisch dafür erstellten, obligaten Leitlinienreport dargelegt. Im Rahmen der Erstellung bzw. Aktualisierung einer NVL erfolgt ein stufenweises Vorgehen.

7.2.1 Recherche in ausgewählten Quellen aggregierter Evidenz

Bei der Erstellung bzw. Aktualisierung einer NVL erfolgt zunächst zum jeweiligen Krankheitsbild eine themenübergreifende Recherche nach systematischen Übersichtsarbeiten, Metaanalysen und HTA-Berichten, die durch das IQWiG (Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen), die Cochrane Collaboration, das National Institute for Health and Care Excellence (NICE), oder ggf. durch die Agency for Healthcare Research and Quality (AHRQ) oder andere HTA-Institutionen erstellt wurden.

Diese Institutionen wurden auf Grund ihrer hohen methodischen Qualität in der Vorgehensweise entsprechend der Anforderungen an systematische Übersichtsarbeiten (SR)/Metaanalysen, ihrer transparenten Berichtsqualität, ihrer wissenschaftlichen Unabhängigkeit und ihres Bezugs zum deutschen bzw. europäischen Versorgungskontext bzw. ihrer weitgehend möglichen Übertragbarkeit auf den deutschen Versorgungskontext als primäre Quellen aggregierter Evidenz ausgewählt. Die jeweiligen a priori durch die Leitliniengruppe festgelegten Recherchestrategien, genutzten elektronischen Datenbanken, der Suchzeitraum und die Trefferzahlen werden im Leitlinienreport jeder NVL dargestellt. Die Leitliniengruppe prüft die identifizierten SRs dahingehend, ob sie hinreichend aktuell sind und die formulierte klinische Fragestellung beantworten.

7.2.2 Bei Bedarf: systematische Recherche in bibliografischen Datenbanken

Fehlen zu einer priorisierten, relevanten Fragestellung thematisch passende und ausreichend aktuelle Übersichtsarbeiten aus der strukturierten Recherche, erfolgt eine systematische Recherche. Zur Planung prüft die Leitliniengruppe erneut die jeweilige PICO und weitere relevante Ein- bzw. Ausschlusskriterien. In Abhängigkeit des Themas, der Forschungsdynamik und der Anzahl aktueller Veröffentlichungen wird auf Basis aggregierter Evidenz oder auf Basis von Primärstudien gesucht. In einigen Fällen wird auch hier ein stufenweises Vorgehen gewählt.

7.2.2.1 Ergänzende Recherche nach aggregierter Evidenz

Zunächst wird eine ergänzende Suche nach thematisch passenden systematischen Übersichtsarbeiten ohne oder mit Metaanalysen in Medline via Pubmed (www.pubmed.ncbi.nlm.nih.gov), in der Epistemonikos-Datenbank (www.epistemonikos.org/de), in der Cochrane Library (www.cochranelibrary.com) und ggf. in der Datenbank KSR Evidence (Kleijnen Systematic Reviews Ltd (KSR), www.ksrevidence.com) oder in themenspezifischen Datenbanken durchgeführt. Es wird geprüft, ob die so ermittelten Treffer ausreichend aktuell und methodisch belastbar sind, um die PICO-Fragen zu beantworten.

7.2.2.2 Systematische Recherche nach Primärstudien

In folgenden Situationen erfolgt zudem eine systematische Suche nach Primärstudien:

  • für Fragestellungen, für die keine geeignete aggregierte Evidenz identifiziert wurde;
  • bei Identifikation passender systematischer Übersichtsarbeiten: für den Zeitraum, der nicht durch den Suchzeitraum der aktuellsten Übersichtsarbeit abgedeckt ist.

Diese Recherchen werden in Medline via Pubmed, im Cochrane Central Register of Controlled Trials (CENTRAL) der Cochrane-Library und bedarfweise in Studienregistern durchgeführt und ggf. themenbezogen in weiteren Datenbanken.

Weiterführende Informationen zur Literaturrecherche finden sich im "Manual Systematische Recherche für Evidenzsynthesen und Leitlinien", das gemeinsam vom Deutschen Cochrane Zentrum (DCZ), dem AMWF-IMWi und dem ÄZQ erstellt wurde 32716. Die PICO-Fragen, Suchstrategien, Ein- und Ausschlusskriterien, sowie die Anzahl der nach den Kriterien ein- und ausgeschlossenen Studien werden im jeweiligen NVL-Leitlinienreport dargestellt.

7.2.3 Vorherige Auflagen der NVL

Wird eine NVL aktualisiert, dient die vorherige NVL mit der dort recherchierten Evidenz als Grundlage der Überarbeitung.

7.2.4 Berücksichtigung publizierter Leitlinien

Bei der Anmeldung der NVL im AWMF-Leitlinienregister und ggf. im Verlauf der Überarbeitung erfolgt im AWMF-Leitlinienregister eine Recherche nach themenverwandten evidenzbasierten Leitlinien (NVL, S3- sowie S2e-Leitlinien) aus dem deutschen Kontext. Auf diese wird für einzelne Empfehlungen und Hintergrundtexte verwiesen, um Dopplungen sowie doppelte Arbeitsabläufe und ungeklärte Widersprüche zu vermeiden 33979. Relevante internationale Leitlinien werden bei Bedarf geprüft und deskriptiv einbezogen, zu Abweichungen wird ggf. Stellung genommen.

Einige NVL basieren noch in Teilen auf einer Leitlinienadaptation nationaler sowie internationaler Leitlinien. Aktuell werden im NVL Programm keine Leitlinienadaptationen mehr durchgeführt. Die Suche nach aggregierter Evidenz liefert häufig aktuellere Ergebnisse. Das methodische Vorgehen der Leitlinienadaptation im Rahmen der NVL wurde im Methodenreport 5.0 dargestellt und kann dort nachgelesen werden (www.leitlinien.de/methodik/archiv).

7.2.5 Epidemiologische Daten und Versorgungsdaten

Für Fragestellungen aus dem Bereich der Epidemiologie werden epidemiologische Daten aus dem deutschen Versorgungskontext recherchiert (z. B. Robert Koch-Institut, deutsche Register). Daten aus den Ergebnissen deutscher Querschnittstudien, Auswertungen des Zi (Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland) und bundesweite vertragsärztliche Abrechnungsdaten werden themenabhängig ebenfalls genutzt und in der Leitliniengruppe diskutiert und hinsichtlich ihrer Aussagekraft und möglichen Verzerrungen bewertet. Liegen für besondere Fragestellungen europäische oder internationale Daten, insbesondere mit Auswertungen in Bezug auf Deutschland vor, können diese ebenfalls Anwendung finden (z. B. für Sicherheitsparameter). Bei Aktualisierungen wird geprüft, ob aus den genannten Datenquellen Erkenntnisse zur bisherigen Leitlinienumsetzung gewonnen werden können. Falls ja, werden diese der Leitliniengruppe vorgestellt, zur besseren Einschätzung der Bestandsanalyse der bisherigen Leitlinienimplementierung.

7.2.6 Weitere Quellen

Selektiv recherchierte Arbeiten werden in begründeten Ausnahmen ergänzend im Rahmen der Leitlinienarbeiten diskutiert und im Hintergrundtext zitiert, wenn sie für die Diskussionen in der Leitliniengruppe von besonderer Bedeutung sind, da sie ergänzende Informationen (bspw. Sicherheitsparameter) oder praxisrelevante Aspekte aufzeigen. Es wird kenntlich gemacht, dass die Arbeit selektiv eingebracht wurde, ihre Nennung hat lediglich erläuternden Charakter und dient nicht als Evidenzgrundlage für Empfehlungen.

7.2.7 Verzicht auf Recherchen (Konsensbasierte Empfehlungen)

Nicht zu allen Fragestellungen der NVL erscheint eine systematisch recherchierte Evidenzaufbereitung sinnvoll und/oder machbar. Liegen hinreichend plausible Gründe vor, die gegen eine systematische Recherche zu einer Fragestellung sprechen, kann die Leitliniengruppe beschließen, auf eine systematische Recherche zu verzichten. Dies kann der Fall sein, wenn

  • Fragestellungen gute klinische Praxis beschreiben;
  • primär ethische Aspekte adressiert werden bzw. diese eher leitend sein werden;
  • die Abwägung zwischen aufzubringenden Ressourcen und dem zu erwartenden Nutzen der Recherche eindeutig negativ ausfällt (z. B. bei Nebenaspekten; bei hoher Wahrscheinlichkeit, dass zu dieser Fragestellung keine oder keine aussagekräftigen Studien vorliegen).

Fragen, die sich die Leitliniengruppe gemäß der GRADE-Arbeitsgruppe in Bezug auf die Erfordernis und Angemessenheit konsensbasierter Empfehlungen stellen sollte, sind im Kapitel 7.5.1 Empfehlungen aufgeführt.

Die Leitliniengruppe begründet für konsensbasierte Empfehlungen, warum keine systematische Recherche erfolgt ist.

Wie bei allen formal evidenzbasierten Leitlinien (S2e und S3) gilt auch für Nationalen VersorgungsLeitlinien die Empfehlung der AWMF-Leitlinienkommission, > 50% formal evidenzbasierte Empfehlungen zu entwickeln.

7.3 Auswahl der Evidenz

Die in der Recherche identifizierten Publikationen werden zweistufig, zunächst als Titel/Abstract und dann im Volltext von Mitarbeiterinnen des ÄZQ gesichtet. Anhand der vor der Recherche festgelegten Ein- und Ausschlusskriterien (Zielpopulation, Intervention, Vergleich, Endpunkte, Sprache, Studiendesign) wird über den Ein- bzw. Ausschluss entschieden. Unsicherheiten werden in der Leitliniengruppe diskutiert. Die Trefferzahlen, Ein- und Ausschlüsse werden in einem Prisma-Flussdiagramm 34099 dargestellt.

7.4 Kritische Bewertung und Extraktion der Evidenz

Die methodische Qualität der eingeschlossenen Publikationen wird kritisch bewertet. Hierzu werden in Abhängigkeit der Art der Publikation unterschiedliche Instrumente genutzt 33239, 32717, 30570. Das Vorgehen wird im jeweiligen Leitlinienreport dargestellt. Leitlinien aus dem AWMF-Leitlinienregister werden nicht zusätzlich bewertet, da eine Prüfung der methodischen Qualität nach AGREE II bereits bei Aufnahme in das Register stattgefunden hat. Werden einzelne Empfehlungen aus anderen deutschen Leitlinien übernommen, überprüft die Leitliniengruppe zuvor kritisch die zugrunde liegende Evidenz und Empfehlungsbegründung.

Die Aussagesicherheit der Evidenz für die klinisch als kritisch graduierten Endpunkte wird nach folgenden Kriterien gemäß dem Vorgehen der internationalen GRADE-Arbeitsgruppe 20830, 21196, 21194, 21189, 21187, 21188, 21191, 21192, 21197 in der Leitliniengruppe diskutiert:

  • Verzerrungsrisiken der eingeschlossenen Primärstudien;
  • Konsistenz/Heterogenität der Ergebnisse;
  • Direktheit: Übertragbarkeit der Aussagen auf die Fragestellung/Empfehlung der NVL;
  • Präzision: Fallzahlen, Konfidenzintervalle und die Lage der gepoolten Effektschätzer zum Nullwert;
  • Publikationsbias: die Frage, ob es weitere Literatur gibt, die nicht von den Autor*innen des systematischen Reviews ausgewertet wurde.

Die Beurteilung der Aussagesicherheit erfolgt zunächst pro Endpunkt und abschließend insgesamt in die Kategorien "hoch", "moderat", "niedrig" und "sehr niedrig" (Tabelle 1). In Bezug auf die endpunktübergreifende Aussagesicherheit empfiehlt die GRADE-Arbeitsgruppe die Ausrichtung an der niedrigsten Evidenz pro Endpunkt.

Tabelle 1: Bedeutung der vier Stufen der Aussagesicherheit nach GRADE (mod. nach 33266)

Aussagesicherheit

Definition

hoch

Die Leitliniengruppe ist sich sehr sicher, dass der wahre Effekt nahe bei dem Effektschätzer liegt.

moderat

Die Leitliniengruppe hat mäßig viel Vertrauen in den Effektschätzer: Der wahre Effekt ist wahrscheinlich nahe bei dem Effektschätzer, aber es besteht die Möglichkeit, dass er relevant verschieden ist.

niedrig

Das Vertrauen der Leitliniengruppe in den Effektschätzer ist begrenzt: Der wahre Effekt kann durchaus relevant verschieden vom Effektschätzer sein.

sehr niedrig

Die Leitliniengruppe hat nur sehr wenig Vertrauen in den Effektschätzer: Der wahre Effekt ist wahrscheinlich relevant verschieden vom Effektschätzer.

Für den Fall, dass eine endpunktbezogene Bewertung nach GRADE bereits durch die Autor*innen der systematischen Übersichtsarbeit mit qualitativ hochwertiger Recherche und Bewertung erfolgte, wird diese übernommen.

Insbesondere bei der Bewertung der Kategorien Konsistenz, Präzision und Direktheit ist es wichtig, die klinische Expertise miteinzubeziehen. Auch die inhaltliche Aussagekraft wird in den Arbeitsgruppen diskutiert.

Die im Rahmen der Leitlinienarbeit diskutierte Evidenzgrundlage wird in Evidenztabellen zusammen mit der methodischen Bewertung und der Bewertung der Aussagesicherheit der Evidenz ausführlich dargestellt. Die Evidenztabellen werden als Teil des Leitlinienreports veröffentlicht. Die Gesamtbewertung der Aussagesicherheit wird im Leitlinientext in der jeweiligen Rationale aufgeführt.

7.5 Formulierung von Empfehlungen und Hintergrundtexten

7.5.1 Empfehlungen

Die Formulierung und Graduierung der Empfehlungen orientiert sich an dem von der internationalen GRADE (Grading of Recommendations, Assessment, Development and Evaluation)-Arbeitsgruppe vorgeschlagenen Vorgehen und dem AWMF-Regelwerk 33979, 803.

Die Empfehlungen basieren auf der kritischen Bewertung der Evidenz (vgl. Kapitel 7.4 Kritische Bewertung und Extraktion der Evidenz) sowie klinischen, versorgungspraktischen und ethischen Werturteilen der Leitliniengruppe. Sie werden gendergerecht sowie nach den Prinzipien der gemeinsamen Entscheidungsfindung verfasst. Die adressierten Patient*innen und Interventionen werden möglichst präzise beschrieben.

Die Empfehlungen werden durch die Leitliniengruppe im Rahmen eines formalen Konsensverfahrens abgestimmt (siehe Kapitel 7.7 Konsensverfahren).

Formulierung der Empfehlung und Graduierung der Empfehlungsstärke

Evidenzbasierte Empfehlungen

Die Empfehlungsstärke wird bei evidenzbasierten Empfehlungen gemäß AWMF-Regelwerk nach folgenden Kriterien graduiert 33979:

  • Wie substanziell sind der erwartete Nutzen und der erwartete Schaden der Intervention?
  • Wie sicher ist die zugrundeliegende Evidenz, bzw. wie vertrauenswürdig sind die Effektschätzer? Zu welchen Endpunkten oder Teilfragestellungen fehlt Evidenz?
  • Wie wichtig sind die Endpunkte?
  • Wie sicher ist die Einschätzung der Ansichten und Präferenzen der betroffenen Patient*innen/Bürger*innen bzw. deren Variabilität?
  • Wie sehr spricht die Abwägung von Nutzen und Schaden in Bezug auf individuelle patientenrelevante Endpunkte, aber ggf. auch in Bezug auf populationsbasierte Endpunkte wie Klimaverträglichkeit (CO2-Bilanz) und Nachhaltigkeit (z. B. im Hinblick auf Müllvermeidung) für die Intervention?
  • Spricht die Kosten-Nutzen-Abwägung für die Intervention?
  • Wie wird die Umsetzbarkeit im Alltag in verschiedenen Versorgungsbereichen in Bezug auf Akzeptanz und Machbarkeit eingeschätzt?
  • Gibt es soziale, ethische, und/oder rechtliche Erwägungen, die die Empfehlungsstärke beeinflussen?

Konsensbasierte Empfehlungen

Bei der Entwicklung konsensbasierter Empfehlungen ist die Leitliniengruppe angehalten, sich gemäß der GRADE-Arbeitsgruppe folgende Fragen zu stellen (übersetzt nach 27759):

  • Ist die Empfehlung eindeutig und handlungsleitend? (diese Anforderung sollten alle Empfehlungen erfüllen)
  • Ist die Empfehlung notwendig (besteht ein Versorgungsproblem bzw. Verbesserungspotential)?
  • Ist der zu erwartende positive Effekt der Empfehlung nach Berücksichtigung aller sich ergebenden Konsequenzen hoch genug (z. B. anschließende Untersuchungen)?
  • Ist eine systematische Recherche und Evidenzaufbereitung zu dieser Fragestellung eine ungünstige Nutzung von Ressourcen im Vergleich zur Bearbeitung einer anderen Fragestellung?
  • Ist die Rationale, die auch eine Verknüpfung mit der indirekten Evidenz herstellt, gut dokumentiert und eindeutig nachvollziehbar?

Um die Formulierung einer konsensbasierten Empfehlung zu rechtfertigen, sollten alle Fragen mit ja beantwortet werden.

Für konsensbasierte Empfehlungen werden zur Graduierung der Empfehlungsstärke mit Ausnahme der Aussagesicherheit der Evidenz die gleichen Kriterien herangezogen, wie für evidenzbasierte.

  • Die Graduierung der Empfehlungen im NVL-Verfahren entspricht den in Tabelle 2 dargestellten Symbolen: Bei starken Empfehlungen ("soll") ist sich die Leitliniengruppe in ihrer Einschätzung sicher. Starke Empfehlungen drücken aus, dass die wünschenswerten Folgen einer Empfehlung (stark positiv oder stark negativ) mit hoher Wahrscheinlichkeit mögliche unerwünschte Effekte in Bezug auf patientenrelevante Endpunkte überwiegen und die überwiegende Mehrzahl der Patient*innen von der Empfehlung profitiert.
  • Bei abgeschwächten Empfehlungen ("sollte") ist sich die Leitliniengruppe in ihrer Einschätzung weniger sicher. Dies betrifft entweder die Sicherheit der Evidenz in Bezug auf die erzielten patientenrelevanten Effekte und/oder die Einschätzung, dass relevante Gruppen ggf. von der Empfehlung nicht profitieren und/oder dass es unterschiedliche Patient*innenpräferenzen gibt.
  • Bei offenen Empfehlungen ("kann") ist sich die Leitliniengruppe nicht sicher. Offene Empfehlungen drücken eine Handlungsoption in besonderer Unsicherheit aus bei schwacher Aussagesicherheit der Evidenz – entweder im positiven ("kann erwogen werden") oder im negativen Sinne ("kann verzichtet werden") und sind deshalb vor allem eine Option für Einzelfallentscheidungen. Offene Empfehlungen sollten sparsam verwendet werden, um kein Einfallstor für ungeprüfte Maßnahmen zu sein.

Empfehlungen für Versorgungsabläufe und Entscheidungsprozesse mit verschiedenen Handlungsoptionen werden als klinische Algorithmen dargestellt 744.

Tabelle 2: Schema zur Graduierung von NVL-Empfehlungen (modifiziert nach 33979)

Symbol

Formulierung

Beschreibung

Empfehlungsgrad

Starke Empfehlung

soll

Starke Positiv-Empfehlung

A

Abgeschwächte Empfehlung

sollte

Positiv-Empfehlung

B

Offene Empfehlung

kann erwogen werden/kann verzichtet werden

Offene Empfehlung

0

Abgeschwächte Negativ-Empfehlung

sollte nicht

Negativ-Empfehlung

B

Starke Negativ-Empfehlung

soll nicht

Starke Negativ-Empfehlung

A

Seit 2023 werden Empfehlungen jeweils mit dem Datum der Erstellung bzw. der letzten Überarbeitung/Prüfung versehen (siehe auch Kapitel 9.2 Aktualisierungsprozess). Zudem ist ersichtlich, ob es sich bei der Empfehlung um eine konsensbasierte oder evidenzbasierte Empfehlung handelt.

7.5.2 Hintergrundtexte

Hintergrundtexte sind empfehlungsbegründend. Sie dienen der transparenten Darstellung aller Aspekte, die zum Aussprechen einer Empfehlung geführt haben inkl. der Begründung für die Empfehlungsstärke. Die Hintergrundtexte orientieren sich an den für die jeweilige Empfehlung relevanten, im Evidence-to-decision-Framework der GRADE-Arbeitsgruppe vorgeschlagenen Kriterien 33240.

Die Hintergrundtexte in den NVL enthalten folgende Elemente:

  • Rationale (zusammenfassende Begründung der Empfehlung): Abwägung von Nutzen und Schaden; studienübergreifende Beurteilung der Aussagesicherheit der Evidenz in Anlehnung an GRADE ("hoch", "moderat", "niedrig" oder "sehr niedrig", siehe Tabelle 1) 33241; Werturteile der Leitliniengruppe; Versorgungsaspekte; weitere Begründungen für die Empfehlungsstärke.
  • Empfehlungsgrundlage: Informationen über die Generierung der zugrundeliegenden Evidenz, z. B. systematische Recherche, Konsensbasierung auf Basis klinischer Erwägungen (vgl. Kapitel 7.2 Evidenzbasis) und ggf. des Versorgungsproblems, das die Leitliniengruppe zur Formulierung einer Empfehlung geführt hat. Bei konsensbasierten Empfehlungen wird begründet, warum keine Recherche durchgeführt wurde.
  • Evidenzbeschreibung: Darstellung der endpunktbezogenen Effektmaße aus systematischen Übersichtsarbeiten inklusive Metaanalyse bzw. Einzelstudien; endpunktbezogene Aussagesicherheit in Anlehnung an GRADE (Präzision des Effektschätzers und Effektstärken; Konsistenz der Studienergebnisse; Anwendbarkeit der Evidenz auf die Patientenzielgruppen (Direktheit); Verzerrungsrisiko inkl. Publikationsbias (vgl. Kapitel 7.4 Kritische Bewertung und Extraktion der Evidenz)); weitere Limitationen; ggf. Darstellung indirekter Evidenz und/oder Daten aus der Versorgungsforschung.
  • Weitere Gründe für Empfehlungsgrad und -formulierung: Präferenzen der Betroffenen; Umsetzbarkeit im klinischen Alltag (Akzeptanz und Machbarkeit) und in verschiedenen Versorgungssettings/Sektoren; ethische, rechtliche sowie ökonomische Erwägungen wie Zugangsgerechtigkeit und Ressourceneinsatz.

Weitere nicht empfehlungsbegründende Informationen (z. B. Verweise auf Informationsmaterialien, Beschreibung der Intervention, Hinweise zur Durchführung, Verweise auf andere Leitlinien, rechtliche Aspekte, Verordnungs-/Abrechnungshinweise) werden nachgeordnet durch eine Zwischenüberschrift entsprechend kenntlich gemacht.

7.6 Formulierung von Forschungsbedarf

Liegt zu den von der Leitliniengruppe priorisierten Fragestellungen keine ausreichende Evidenz vor, kann die Leitliniengruppe entsprechenden Forschungsbedarf beschreiben und begründen. Der Forschungsbedarf wird in den Arbeitsgruppen zu den einzelnen Kapiteln formuliert und vor der öffentlichen Konsultation zusammengetragen und ggf. priorisiert.

7.7 Konsensverfahren

Die Verabschiedung und Graduierung von Empfehlungen erfolgt im Rahmen eines formalen Konsensverfahrens. Im informellen Konsensverfahren (moderierte Diskussion) werden die Formulierung relevanter Fragestellungen, die Feststellung des Bedarfs an systematischen Evidenzrecherchen, die Arbeiten und Diskussionen in Arbeitsgruppen und die Abstimmung von Hintergrundtexten erreicht.

7.7.1 Formales Konsensverfahren

Für die endgültige Formulierung und Graduierung von Empfehlungen bei einer Präsenzveranstaltung oder Onlinekonferenz wird eine formale Konsensfindungstechnik angewendet. Die Auswahl der Methode richtet sich unter anderem nach der Heterogenität der Gruppe, der Größe der Gruppe (Nominaler Gruppenprozess ca. 15–20 Teilnehmende, Strukturierte Konsensuskonferenz nach dem Typ der National Institutes of Health (NIH-Typ) > 20–60 Teilnehmende, Delphi-Technik bis ca. 200 Teilnehmende), der Komplexität der Fragestellungen sowie vorhandenen Ressourcen 33979, 1623. Die verschiedenen Techniken der formalen Konsensfindung werden im AWMF-Regelwerk Leitlinien beschrieben 33979. Auch eine Kombination verschiedener Methoden ist möglich.

Für die Konsentierung ist eine ausreichend repräsentative Zusammensetzung der Konsensusgruppe notwendig. Der Abstimmungsprozess wird durch neutrale, in den Konsenstechniken geschulte und erfahrene Personen moderiert. Eckpunkte des strukturierten Konsensverfahrens sind eine explizite Darlegung der Evidenzlage und der Kriterien für die Konsensfindung sowie eine systematische Vorgehensweise hinsichtlich der Erfassung, Darlegung, Rückmeldung und Zusammenführung der Beiträge der Teilnehmenden. Jeder Fachgesellschaft/Organisation steht im Abstimmungsverfahren eine Stimme zur Verfügung. Nicht-stimmberechtigte Leitlinienautor*innen wirken beratend mit. Enthaltungen sollten nur aufgrund von Interessenkonflikten erfolgen (siehe Kapitel 13 Redaktionelle Unabhängigkeit, Darlegung von Interessen und Umgang mit Interessenkonflikten).

Empfehlungen gelten als angenommen, wenn ein Konsens erreicht wurde (siehe Tabelle 3). Der Ablauf des Verfahrens und die Abstimmungsergebnisse werden im Leitlinienreport dokumentiert. Die inhaltlichen Begründungen für den Empfehlungsgrad mit ggf. einem Abweichen von Evidenz- und Empfehlungsstärke werden im Hintergrundtext der jeweiligen Empfehlung aufgenommen.

Tabelle 3: Feststellung der Konsensstärke

Klassifikation der Konsensstärke

starker Konsens

Zustimmung von > 95% der Teilnehmenden

Konsens

Zustimmung von > 75–95% der Teilnehmenden

mehrheitliche Zustimmung

Zustimmung von > 50–75% der Teilnehmenden

Keine mehrheitliche Zustimmung

Zustimmung von < 50% der Teilnehmenden

Wird kein Konsens erzielt, ggf. auch nach moderierten Mediationsgesprächen, besteht unter anderem die Möglichkeit, die unterschiedlichen Einschätzungen von beteiligten Fachgesellschaften/Organisationen darzustellen:

Die Fachgesellschaft/Organisation beantragt die Darlegung des begründeten Dissenses zu den Aussagen, die nicht mitgetragen werden können oder die Aufnahme eines Sondervotums. Dieses Sondervotum wird von der Fachgesellschaft/Organisation selbst als konkreter Alternativvorschlag mit Begründung formuliert und – wenn es nachvollziehbar aufgrund der Evidenzlage oder der im Anhang genannten Kriterien (siehe Anhang 3) begründet ist – in die NVL aufgenommen. Sondervoten können bei der Konsensfindung nur von den Mitgliedern der Leitliniengruppe und vor der Veröffentlichung der Konsultationsfassung eingebracht werden.

Zu weiteren Optionen siehe AWMF-Regelwerk 33979. Das jeweils angewendete Vorgehen wird im Leitlinienreport dargestellt.

In Anwendendenversionen oder Praxisempfehlungen einzelner Fachgesellschaften, die sich auf die Inhalte einer NVL beziehen, sollen bei themenbezogenen Sondervoten oder entsprechendem Dissens auch die Position der jeweils anderen Fachgesellschaften dargestellt werden, um Nutzende transparent über die unterschiedlichen Einschätzungen zu informieren.

7.8 Konsultationsphase/Externe Begutachtung

Nach Fertigstellung der inhaltlichen Arbeiten an der NVL und nach erfolgter Prüfung durch das AWMF-IMWi auf formale Erfüllung der Regeln für S3-Leitlinien wird eine Konsultationsfassung auf den Internetseiten des ÄZQ (www.leitlinien.de/methodik) und im AWMF-Leitlinienregister öffentlich zugänglich für 6 Wochen zur Kommentierung bereitgestellt. Der Beginn dieses externen Begutachtungsverfahrens wird auf den Internetseiten des ÄZQ und über eine Pressemitteilung an Presseverteiler bekannt gegeben.

Eingehende Kommentare werden durch das ÄZQ gesammelt, aufbereitet und an die Leitliniengruppe weitergeleitet. In einer Telefon- bzw. Videokonferenz oder Präsenzsitzung werden alle eingegangenen Kommentare diskutiert und daraus resultierende Änderungen beraten. Inhaltliche Änderungen an den Empfehlungen werden erneut abgestimmt. Eingegangene Kommentare und entsprechende Beschlüsse mit ihren jeweiligen Begründungen werden zusammen mit dem Leitlinienreport veröffentlicht.

Methodenreport, Version 6.0, 2024

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zuletzt verändert: 27.02.2024 | 14:40 Uhr